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Wer Leben schafft, kann diesem Leben damit längst noch keine Bestimmung zuweisen. Nur weil einer eßbar ist, heißt das nicht, daß man ihn essen darf, und aus einem Tun folgt sowenig ein Sollen wie aus einem bloßen Sein. Als die Gente dies verstanden hatten, begann erst die allseitige Freiheit.

«Bene Gente «taufte man die Lehre flapsig; als Golden seinen Leib verließ, war sie den Tieren schon so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, daß dieser Name langsam in Vergessenheit geriet. Niemand wollte sie ja zu einer neuen Doktrin im Stile der Langeweile entwürdigen. (»Keine heiligen Schriften«, hinterließ Golden seinen Getreuen,»die Gefahr der Abschreibfehler ist zu groß.«)

Auf diesen Namen, diesen Gesichtern, diesen Taten gründete die Epoche, in der nur noch eine einzige Autorität galt — nicht die eines Gewalthabers, sondern eine, auf die man sich aus Einsicht und bewußtem Vorsatz geeinigt hatte: Person und Bild, Cyrus Iemelian Adrian Vinicius Golden.

5. Lasaras Mutter

Fünf Jahre vergingen, nachdem die Kügelchenvergiftung ihre häßliche, aber notwendige Wirkung getan hatte.

Dmitri Stepanowitsch reiste.

Izquierda plante und baute.

Philomena log und kicherte.

Der Löwe träumte und sprach Recht aus dem Schlaf.

Dann geschah etwas Überraschendes: Lasaras Mutter ließ von sich hören.

Von ihr war lange nichts bekanntgeworden. Die Pherinfoplexe wußten bloß, sie habe sich, ihren eigenen Worten nach,»dafür entschieden, nach einer stark verbesserten Verkörperung zu suchen — verglichen mit der kruden, in der Vater Goldens Gente leben«.

Lasaras Mutter trug, ihrer Stellung angemessen, viele Namen.

Der bekannteste war der, mit dem sie sich während der guten Zeiten ihrer mehrfach geschiedenen und mehrfach wieder geschlossenen Ehe mit dem Löwen hatte anreden lassen: Livienda Iemelian Adrian Vinicius Golden.

Gern ließ sie das, schon um ihn zu brüskieren, selbst vom niedrigsten Besuch zu» Dame Livienda «abkürzen.

Vor Jahrhunderten, als sie den Löwen kennengelernt hatte, war sie, biologisch gesehen, ein Gründerschwarm gescheiter Insekten gewesen; ökonomisch und politisch betrachtet: eine inkarnierte Anleihe auf große Zwecke im transfiniten Genpool der ersten Pielapielimaten. Ihre Losung, damals an vielen Wänden in Borbruck zu lesen:»Alles muß sich ändern; wir sorgen dafür, daß es sich zum Guten ändert.«

Der Satz, verkürzt auf sein syntaktisches Stemma, diente Jahrzehnte nach Livendas erstem Verschwinden den Dachsarmeen im ehemaligen Europa und im früheren Asien noch immer als Signalentfaltungsschlüssel bei der EPR-Kommunikation. Der Gründerschwarm Protolivienda hatte als Militante, ja Militaristin gegolten; die Menschen in ihrem Umkreis hatten, solange es noch welche gab, wenig Freude an ihr gehabt.

Die Libelle Philomena band es nicht jedem auf die Nase, wenn man sie nicht direkt danach fragte, aber sie war ursprünglich ein aus der langen Rückgratskette jenes Gründerschwarms gesprengtes Glied gewesen, bevor sie zu sich gekommen war.»Ich binde im Zwinkertakt Eigenwerte an die kleinsten Rechenzustände«, hatte sie Dmitri Stepanowitsch einmal erzählt,»und wie das geht — wie man ›ich‹ sagt und wozu das nützt —, das habe ich von ihr gelernt. Sie war sehr groß damals, bedeutend und gefährlich.«

Als Livienda, seit Jahren verschwunden, nun wieder von sich hören ließ, richteten sofort Hunderte Foren und zahlreiche einzelne Gente Anfragen an die Archive: Wer sie denn sei, wie man sie sich vorzustellen habe, was sie wohl im Schilde führe.

Ihr erster neuer Forumsbeitrag, in einem abseitigen Gesprächsfaden der Weltkonversation der Gente (betreffend meteorologische Fachfragen), gab große Rätsel auf:»Ich werde den Himmel nie wieder so sehen wie vorher. Ich werde lernen, mich von gestern zu verabschieden.«

Die Pherinfone zeichneten ein merkwürdiges Bild von der Teilnehmerin, die diese Äußerung getan hatte. Das war ganz offensichtlich eine Maske, die sich aus alten Codes des gewesenen Gründerschwarms herleitete: Das Gesicht bestand aus Torf-Mosaikjungfern und anderen blaugrün schimmernden Insekten; geschwinde Splintböcke hielten den Kontakt der Hohen Frau zum festen Grund und Boden; Schmalbienen, Seidenbienen und Prinzenbienen bildeten den eigentlichen Leib und tanzten nach den verbindlichen Protokollen der geläufigsten Sprachen gentiler Ökotekturen. Nachforschende wurden auf sehr altes Material verwiesen.

Die Brautephemeriden waren seinerzeit kurz nach der ersten Eheschließung mit dem Löwen öffentlich gemacht worden; wer neugierig war, konnte noch heute alles darüber erfahren. Das ganze schwirrende Agencement, das Livienda damals gewesen war, hatte sich, verrieten die Ephemeriden, während der langen Zeit, in der Cyrus Iemelian Adrian Vinicius Golden um sie geworben hatte, fast täglich vom Löwen dieselbe Vorhaltung machen lassen müssen:»Du bist reizend, meine Liebe. Aber von zwei Dingen bist du ungesund besessen: Das eine ist deine Autonomie; das andre ist deine Autotomie.«

Sie pflegte zu entgegnen:»Die Autonomie, da redest du von dir selbst. Die kümmert mich wenig, schon weil sie mit Autotomie, wie ich sie verstehe, nicht allzuleicht zusammengeht. Daß man mich zerbrechen kann, ohne mich zu vernichten, und daß meine Beweglichkeit nicht davon abhängt, ob ich mir meine Integrität zum Fetisch mache, der vom einen Augenblick zum nächsten unbedingt mit sich identisch bleiben muß, das wirst du noch als einen Vorzug begreifen lernen. ›Ich bin dies und das, der und der, ein großer Löwe‹: keine gute Idee. Gußeiserne Götter landen früher oder später auf dem Schrottplatz.«

«Ich mag deine lästerlichen Reden und deine liederliche Zunge«, schmeichelte der Verliebte.

«Meine Zunge ist viele Zungen«, erwiderte Livienda.

«Du besitzt eine Sprache, die ich verstehe, auf mehr kommt's mir nicht an. Und wenn du einen, sagen wir: frivolen Standpunkt zur Identität einnimmst, dann soll mir das…«

«Diesen sogenannten frivolen Standpunkt wirst du mir noch als Eigenschaft neiden, die alle meine andern von dir geschätzten Eigenschaften an Wert weit übertrifft.«

Der Löwe ließ es sich nicht nehmen, diese kokette Antwort mit einem Geschenk zu erwidern, das gerade beleidigend genug war, um lustig zu sein:»Hier, Schwarmgeist, hast du einen neuen Leibdiener, der dir zeigen wird, wie schön das ist, wenn man ein Individuum schurigeln kann und immer weiß, um wen es sich dabei handelt.«

Es war ein autotomes Laufschwein namens Hébert Loskauf, dessen lebenslange Ergebenheit der Löwe unter Brechung von ihm selbst erlassener Gesetze per Fesselpherinfonik an die Krabblergenomik seiner Braut hatte binden lassen. Er ging dabei davon aus, daß Livienda den Klugen, wenn sie seine vergnügliche Anhänglichkeit satt bekam, von ihren Bienen totstechen lassen würde.

Aber ob nun aus Mutwillen, Trotz, Schalkheit oder Perversion: Sie behielt Hébert Loskauf durch alle Anfechtungen und Stürme der Ehe, sorgte gut für ihn und machte ihn sogar, als sie im sechsten Löwenkabinett des zwanzigsten trikontinentalen Aedilstags zur Bevollmächtigten für Kladismus, Taxonomie und Gametenpartnerrechte ernannt wurde, zu ihrem persönlichen Referenten.

Das Laufschwein war schlau, pflichtbewußt und im Streit mit politischen Feinden stets tapfer.

Während der auf beiden Seiten grausamen Ausrottungsfeldzüge nach der Befreiung, als zweihundertvierzig Millionen Gente und drei Milliarden Menschen binnen weniger Monate getötet wurden, trug Hébert einmal wöchentlich schmutzige Liebesbriefchen, auf Menschenhaut geschrieben, zwischen den beiden Eigensinnigen von der Front ins Hinterland und zurück.