«Ein Baum?«staunte ein verschlafener Halfterfisch, der sich in einer atlantischen Leuchtblase aufhielt und zu spät zugeschaltet worden war, um die abwehrende Haltung des Laufschweins zu genaueren Fragen mitbekommen zu haben.»Wie wurde sie ein Baum? Und sag uns auch: weshalb?«
«Auf dem normalen Weg. Und aus den Gründen, aus denen wir alle nach Wachstum streben«, versicherte das Laufschwein, das sich jetzt gefangen hatte:»Frucht, Sproß, Hauptwurzel, Seitenwurzeln, reckt sich, kommt aus sich hervor, strebt in die Sonne. Alles, was man schon während der Langeweile drüber wußte, gilt ja weiterhin.«
Westfahl Sophokles Gaeta ließ sich so leicht nicht abwimmeln:»Hébert, entschuldige, aber so geht das nicht. Wir fragen das nicht als irgendwelche Gente. Viele von uns, die heute hier teilnehmen, gehören zum vorgesehenen Stab des Reformprojekts. Wir wollen Livienda selbst sprechen.«
«Wozu?«Hébert war ehrlich verblüfft.
«Wir müssen ihr auseinandersetzen, was wir brauchen, wenn wir den Auftrag annehmen, wenn wir diesen — wie sagt man? Arbeitsausschuß von Rechtserforschern und Gesetzesverbesserern gründen sollen«, sagte der Zander.
Hébert schüttelte den Kopf:»Ich bitte euch, ihr klugen Gente, macht keine Gewissensentscheidung daraus. Sie hat ihre intimen Gründe, das soll man respektieren. Ihr könnt den Auftrag annehmen oder euch dem Wunsch von Madame verweigern. Sie treffen, mit ihr fraternisieren: das könnt ihr nicht. Der Baum, das muß ich euch sagen, steht an geheimem Ort, da soll er stehen bleiben, seinen eigenen Schatten werfen und nur von mir gesucht und gefunden werden. Ich bin Liviendas Vertrauter und darf euch nur so weit entgegenkommen, daß ich versichere: Einmal wieder, in veränderte Gestalt, wird sie sich unter die Gente mischen und teilhaben an ihrem — an unserem — Schicksal. Wenn die Zeit gekommen ist.«
«Sie wird die drei Städte aufsuchen?«
«Das habe ich nicht gesagt. Genug.«
Die Versammlung wurde zerstreut, die Verbindungen wurden gekappt.
6. Lust und Fortpflanzung
Héberts umsichtige Netzwerkarbeit, die Pherinfonkonferenzen und Einzelgespräche taten ihre Wirkung: Nach ein paar Jahren fanden die Gente der drei Städte zu einem Konsens, der besagte, daß Livienda für ihren Vorstoß großen Dank verdiente. Lebte man nicht wirklich, was die wichtigsten Gametenprobleme betraf, in beschämender Rechtsunsicherheit? Hatte man die Spuren der Langeweile überhaupt aus den vorherrschenden Fortpflanzungssitten getilgt? Gab es für die neuen Usancen irgendwelche Tiefengrundlagen? Nein, es gab» verknotete Gewohnheiten«(Livienda, aus Hébert Loskaufs Mund), eine allmählich erschlaffende Lust am Experimentieren, aber keine Ordnung.
Cyrus Iemelian Adrian Vinicius Golden, so die übereinstimmende Meinung aller, die sich mit Héberts Mitteilungen auseinandergesetzt hatten, war offenbar nicht willens oder nicht in der Lage, die vorhandenen Verschlingungen mit einem Hieb zu durchtrennen. War es da nicht rechtens, ja ein Glück, daß Livienda Sonya Gina Anya Katya Nisi Saba Schebe Mattha Catriona Elyce Finfin-Fain sich von der geregelten Gesellschaft, die gar so geregelt nicht war, fernhielt, bis ihr Geld und ihre Förderung dafür gesorgt hatten, daß das Chaos überwunden wurde?
Die neue Akademie für Kladismus, Taxonomie und Gametenrecht wurde als wassergefüllter, mit allen nötigen Druck-, Nahrungskreislauf- und Lichteinrichtungen versehener Torus aus Fruchtglas unterm Benzolring ins Borbrucker Trägerbrückengeflecht eingepaßt.
«Meerestiefen, mitten in der Stadt!«schwärmte das omnipräsente Laufschwein in der Woche des Montagebeginns. Dann zog sich Hébert Loskauf eine Weile ins Kleinklein der präliminarischen Ausschußarbeit zurück und blieb schließlich selbst den orgiastischen Festen fern, für die ein großer Teil des Liviendaschen Werbebudgets im ersten Jahrfünft nach der Rückmeldung der ehemaligen Löwengattin verwendet wurde.
Die Bauzeit für den Torus betrug siebzehn Jahre.
Als sie beendet war, konnten die Atlantiker und einige wenige Kroyphäen aus anderen Lebensräumen, die mit ihnen intellektuell Schritt zu halten vermochten, in ihr neues Borbrucker Hauptquartier einziehen und das Titanenwerk in Angriff nehmen.
Geduldig saß Hébert Loskauf zwei volle Schweinealter in seinem Dachgarten unter den leuchtenden Kupferwolken auf der Südkante des Benzolrings.
Etwas regte sich von Zeit zu Zeit in seinen Ohren. Dann redete er, ohne daß sich seine Lippen merklich bewegten, mit der fernen Herrin. Wenn sie ihn fragte, wie es voranging, sagte er Sätze wie:»Ich bin zufrieden. Ich erlebe etwas Bedeutendes hier. Ich höre der Corioliskraft, der Abwärme, den Scherkräften, den Zugkräften, den Druckkräften, der Schwerkraft, dem Elektromagnetismus, der starken und der schwachen Kernkraft dabei zu, wie sie überschüssige Zwischenzeit aus dem Wohn- und Arbeitsbereich der Atlantiker pressen. Ich sehe, wie alle Kraftvektoren der Natur Übersprungsbeschlüsse der Unterausschüsse aus den Dokumentationen herausflensen und den Augenblick immer näher heranholen, an dem die zentrale Koordinationskommission ihre Funde und Urteile verkünden wird.«
«Wenn das so ist«, flüsterte die Stimme Liviendas, die niemand hören konnte außer Hébert,»dann bin ich ebenfalls zufrieden.«
Ohne Mandat verfolgte Hébert, wenn er schon mal da war, mit detachiertem Amüsement die seltenen Nachrichten vom auffälligen Verhalten der Herrschertochter Lasara.
Die Klatschplattformen der Pherinfonportale lebten seit einem Dutzend aufgeregter Sommer von nichts anderem als den Parties, Drogendelikten, Selbstverstümmelungen, Affären und theoretischen Leistungen des Wunderkindes, das sich im Okkasiviertel von Kapseits niedergelassen und sich in teils rührender, teils besorgniserregender Parodie der Vita ihrer Mutter mittels mehrerer Heiraten, Scheidungen, Identitätskollusionen, Partialabspaltungen und Rekombinationsmanöver viele extreme Erfahrungen und einige neue Namen zugelegt hatte.»Sie heißt jetzt Lasara Iemelian Oktet Chukwudi Ottobah Sandra Belle Placide Lais Olbers Vinicius Golden«, verriet Hébert seiner fernen Herrin.
«Wenn das so ist«, erwiderte sie, und es klang ihm inzwischen wie ein Wiegenlied,»dann bin ich darüber ebenfalls zufrieden.«
Lasaras Leben mochte ein einziger Unfall sein, ihre geistige Laufbahn war alles andere.
Nachdem sie mit einer makellosen Herleitung der» Abweichungen der Wirtschaftszyklen des befreiten Tierreichs von den national- und globalökonomischen Gesetzmäßigkeiten der Vorfahren während der Langeweile unter besonderer Berücksichtigung der eingetretenen Ungültigkeit des Okunsabyoschen Gesetzes von der Elastizität der Ratio des tatsächlichen zum möglichen produktiven Output eines gegebenen Erzeugungsraums «die Adlermedaille der wissenschaftlichen Gesellschaft des IV. Aedilskonzils gewonnen hatte, warf sie sich auf die Biologie.
Hier erwarb sie sich zunächst höchste Verdienste um die Renaissance der Idee der Orthogenese, ging dann zu deren politischer Nutzanwendung über, mischte also eine Weile unter atemberaubender Steigerung ihrer persönlichen Skandalrate in den obersten Rängen der polyarchischen Partei mit (mehrere Verhaftungen und demonstrativ harte Strafen im Zusammenhang mit Pielapielpalastbesetzungen, Pherinfonverkehrsdisruptionen und anderen Akten zivilen Ungehorsams, darunter der Organisation einer dreiwöchigen Massenblockade zweier Dachskasernen im Umland von Kapseits, waren die Höhepunkte ihres Engagements).
Als der dissidente Dachs Oudemans Dahl sich auf einer Sitzung des Parteivorstands mit donnerndem Groll gegen» pueriles Hysterietheater «und» reiche Schnepfen, die uns als Vehikel für ihre abstoßende Selbstinszenierung mißbrauchen «aussprach, lachte sie ihm ins Gesicht und erklärte formlos ihren Austritt aus der Partei:»Wißt ihr was? Leckt mich, ihr Leichen.«