«Mit Namen weiß ich dir nicht zu sagen, wer ich bin. Mein eigner Name, teure Heil'ge, wird, weil er dein Feind ist, von mir selbst gehaßt. Hätt ich ihn schriftlich, so zerriss' ich ihn.«
Der Wolf legte die Schnauze auf die feuchte Erde, atmete Pfeffer ein und schloß die Augen. So hörte er die eine» mein Fräulein «flüstern und die andre» Ich rief' wohl gute Nacht «sagen, bis er wußte, was nur er und die Pilze hier vernommen hatten: Daß das der Grund war, warum der Löwe von hier keine Hilfe erhalten würde, daß dies alles war, was die Comtesse wollte, Romeo sein und Julia lieben, oder Julia sein und Romeo lieben.
Die Geschichte versöhnen, die Zeit vergessen, in der man einander gefreit hatte, aber trotzdem nicht gefunden. Wie Geister nickten Rosmarinnadeln im leichten Wind, ein zartes Publikum. Jedem Haar auf seinem Pelz befahl der Wolf Reglosigkeit; lieber wäre er gestorben, als diese beiden zu stören. Es gab hier keine Eifersucht; wie hätte er der Schwänin nicht gönnen können, was ihre wichtigste Begegnung war, in Traum und Wahrheit?
Ich bin nicht Julia, dachte Dmitri, ich bin nicht Romeo, ich bin nur einer, der sich aus ganz gleichgültigen Gründen herverirrt hat und das zu gern für ein Nachhausekommen halten wollte.
Sie ist so viel älter als ich und so viel naiver zugleich.
Was also wird passieren? Wird sie mich begraben, wenn ich hier sterbe, oder wird sie mich lehren, was ich wissen muß, um fortgehen zu können?
Wird es Zeit sein, aufzubrechen, gerade dann, wenn ich wirklich angekommen sein werde?
«Ich will zur Zell' des frommen Vaters gehen, mein Glück ihm sagen und um Hilf' ihn flehen.«
Am Morgen, der auf die Entdeckung folgte, erwachte er auf dem alten großen Parkplatz, im Schatten einer verfallenen Beobachtungskuppel. Ahornblätter lagen um ihn aufgeschüttet wie abgestreifte Federn. Darin hatte er gewühlt, bis die Dämmerung heraufgezogen war. Er streckte sich, summte wie ein Bienenstock, sah nach oben. Da flogen die Katzen in Keilformation, dann in Clustern. Er sah, als er genauer untersuchte, wie sich das bewegte, daß sich andere Schwärme hineinmischten.
«He!«Die Comtesse hatte sich von rechts angeschlichen, im starken Duft der Blätter, daß er ihre Witterung nicht bemerkte. Sie roch nach Rauch.
Alexandra sagte:»Siehst du, was das für Pfeile, für Keile sind?«
Er stutzte, sah's und begriff, daß der Anglerfisch die Wahrheit gesagt hatte: Pelikanaale, Beilfische und eine Wolke aus Hunderten Grenadierfischen.»Sie haben tatsächlich… die Lüfte erobert, diese Fische!«staunte der Wolf. Die Schwänin küßte seine Halsgrube und tuschelte ihm zu:»Wart's nur ab. Die Atlantiker sind ehrgeizig. Lüfte, pffft, die sind erst der Anfang. Das Weltall. Da wollen sie hin, und es steht ihnen ja auch zu, wenn man's als Ozean auffaßt. «Er blies ihr ins Ohr, tänzelte einen Ausfallschritt von ihr weg und sagte:»Ins All? Das haben wir doch hinter uns.«
«Du redest wie der Löwe«, die Schwänin breitete die Flügel aus und faltete sie wieder zusammen, ein keusches Kleid.»Die Menschen waren dafür nie geeignet, das stimmt schon. Sie haben den Plan dann ja auch fallengelassen, noch vor der Befreiung. Denn zwei Dinge hätten sie ändern müssen: Ihre zerbrechliche Genetik, die zu anfällig war für die harte Strahlung, für die ständigen Teilchenschauer im Leerraum, und ihre viel zu kurze Lebensdauer, bei der war an die weiteren, interessanteren Reisen draußen nicht zu denken.«
Der Wolf sah wieder nach oben: Feuerschwerter. Flammenzeichen. Viel Farbe.
«Und die Gente haben das geregelt?«sagte er nachdenklich.
«Ach, Gente. Die da oben, das ist was Frisches. Die vierte Generation nach der Befreiung. Du gehörst nur zur zweiten.«
«Nur. Klingt nicht nett.«
Sie streichelte ihn, das stimmte ihn freundlicher.
«Ist nicht die Imagination unsere Rettung?«fragte sie. Er wunderte sich, zärtlich sorgend, woher eine, die soviel Richtiges getan und gewußt hatte, wohl diese fromme und auch ein bißchen ekelhafte Lüge haben mochte.
Sie hörte wohl, daß er nicht antwortete. So sagte sie ihm etwas anderes:»Ich habe gebaut und gebaut und gebaut. Mit sechzehn Jahren habe ich angefangen. Ich sammle alles, was damit zu tun hat.«
4. Film
Im Keller zeigte sie ihm, was sie meinte:»Zweite Generation. Das habe ich Iemelian damals geraten.«
«Einem der…«
«Vorläufer deines Chefs, ja.«
Die Projektion an der Wand zeigte Infektionsvektoren, nach Riesenpopulationen auf zusammenhängenden Landmassen aufgeschlüsselt. Nach einer Weile zerstob das Bild und machte einem Riesenmolekül Platz.
«Immunität gegen alle natürlich vorkommenden Kleinstangreifer«, sagte Alexandra.
Das Modell drehte sich, die kleinen Kügelchen (Dmitri erinnerte sich an die Gifte gegen die Hände der Menschen) pulsierten im Takt simpler Musik, und die Comtesse erklärte:»Das Konzept war robust, uns vorgegeben von der Naturgeschichte: zwei Helixbänder aus Zucker und Phosphat, verbunden mittels Basenpaaren, in deren Vierbuchstabenalphabet die gesamte genetische Information verschlüsselt ist. Zweite Generation, das hieß: Man hat andere Basen eingefügt, ein ganzes Genom. Ein neues Phylum war geboren. Der Code blieb derselbe, das Alphabet war ein anderes.«
«Ein Schritt übers Anagramm hinaus.«
«Genau. Ein Meta-Anagramm oder… Kata-Anagramm: nach unten ausweichen. Daher hat das tamerlanische Monstrum im Süden wohl auch sein Namenspräfix, Katahomen: Es ist eine Abspaltung der zweiten Generation, eine Erweiterung des Prinzips ins Silizium- und Keramikleben hinein. Erst die DNA, dann die neuen Ribosomen…«
«Und der Stoffwechsel?«
«Standard. Dieselben Proteine wie alles, was die Evolution vorher zusammengebastelt hat. Neunzig Prozent von allem blieben gleich, aber der resultierende multizelluläre Organismus war sofort immun gegen sämtliche Viren, alle Perrhobakter. Die Dinger kommen zwar noch rein, aber…«
Der Wolf stellte sich kleine Roboter vor, die in seinen Schädel gelangten. Kaum sind sie drin, fällt hinter ihnen die Tür ins Schloß, das sie geknackt haben. Da sitzen sie dann in der leeren Kälte und verhungern.
«Ähm, hilf mir nochmal. Zweite Generation, wie ging die erste?«
«Weißt du überhaupt, was du mich da fragst?«
«Na ja, ich frag dich… nach der biotischen Beschaffenheit der Befreiung. Was die eigentlich war.«
«Genau. «Die Comtesse bewegte ihre rechte Flügelspitze und machte dazu ein strenges Gesicht: Das sind böse Geschichten, darüber rede ich nicht gern.
Dmitri nahm sich vor, einmal den Löwen zu fragen.
Kaum hatte er den Vorsatz gefaßt, wurde ihm schmerzlich klar, daß er, so wohl er sich hier fühlte, nicht bei Alexandra bleiben würde. Es war zu schön hier, und wenn er sie fragte, in Andeutungen oder direkt, ob sie ihn bei sich behalten sollte, dann schwieg sie mit tausend Sätzen, dreitausend Ausreden. Von Schmerz verstand sie lieb zu raunen; davon, daß, wer Leidenschaft sagte, auch von Leiden reden mußte, und anderes trauriges, verkehrtes Zeug aus dem Fundus muffiger Selbstbestrafungswahnideen der Langeweile. Er gehörte also wohl doch nicht hierher, in dieses Denkmal, ins Glück der Abgeschiedenheit. Was Dmitri nicht verstand: Sie liebte ihn, aber daran mußte er glauben, das ließ sie ihn nicht wissen. Als ob Glück etwas Schlechtes wäre und unerfülltes Sehnsucht ein stärkeres Argument als erotische Großzügigkeit, die sie ihm doch anfangs geschenkt hatte, ein stolzes und freies Geschöpf.
Die Sonne wurde blasser, mehrdeutige Winde kamen auf.
Der Wolf war ein politisches Tier und würde ihr ab jetzt deshalb im Gegenzug ebensogut verbergen, was er fühlte.
5. Form, forms and renewal, gods held in the air
«Siehst du sie? Siehst du, was sie mit der Zeit macht?«