Der Wolf schaute hin und hatte das erste Mal das Gefühl, er sähe sich selbst beim Schauen zu, so wie man, bei großer Übermüdung etwa, manchmal sich selbst beim Reden zuhört.
Die Comtesse hatte im Auditorium Maximum Vorrichtungen aufgestellt, mit denen man uralte Filme abspielen konnte. Was der Wolf sah, war ein Mädchen, das den rechteckigen Bildrahmen diagonal betrat und zielstrebig durchquerte. Die junge Frau verschwand hinter einer Sanddüne im Vordergrund, am Rand des gezeigten Ausschnitts. Die Kamera setzte für einen kaum merklichen Moment aus. Dann ging das Mädchen in größerer Ferne vorüber und steuerte einen Ort hinter einem weit hinten liegenden Sandhügel an.
Die Kamera drehte sich, in einer das gesamte Panorama erfassenden Bewegung, in die Richtung, in der das Mädchen soeben den Bildausschnitt verlassen hatte. Da sie an exakt derselben Stelle weiterfilmte, an der sie eben ausgesetzt hatte, gab es keine räumlichen Anzeige der verstrichenen Zeit. Der Wolf erwartete (oder erwartete von sich, zu erwarten: seltsame Dopplung) zunächst, das Mädchen hinter der Düne hervorkommen zu sehen, hinter der es sich eben verborgen hatte. Statt dessen aber trat es nun hinter der weit entfernt liegenden Düne ins Freie. Entfremdung des Sehens von seinem Gegenstand, Überschreitung des im Kopf zurechtgelegten Zeitmaßes und diese Dopplung: Dmitri glaubte, als das Bild verschwand und das Licht anging, daß von ihm erwartet wurde, er solle sich dazu äußern.
Zögerlich setzte er an:»Ein ähm Sprung, eine… wie anagrammatische…«
Aber Alexandra Élodie legte ihm eine Flügelspitze auf die Lippen:»Schh. Nur gucken. Sonst tust du ihr noch mal an, was ihr zu Lebzeiten angetan wurde«
Dmitri wußte nicht, wer die Person war, auf die sich das bezog.
«Sie ist an ihrer Wut gestorben«, sagte Alexandra,»weil man sie nicht arbeiten lassen wollte.«
Das Licht ging wieder aus. Der Film begann von neuem.
6. Bright void, without image, Napishtim
Sie zeigte ihm ein letztes Mal ihre Gärten, als die schon dunkler wurden.
Das war bereits der Krieg:»Am Anfang setzt es immer diese plumpen Faustschläge«; seufzte sie, es klang fast peinlich berührt,»da werden die Ernten behext, da wird das Wetter zerstört. Lustig, solche Worte wieder zu sagen. Hab mich damals immer gefragt, wie das möglich ist, wie strikt reserviert überhaupt Wörter sind, jedes will nur da hin, wo es hinzugehören glaubt. Man sagt zum Beispiel, die Stadt sei zerstört worden und man habe die Einwohner ermordet, aber man käme sich komisch vor, zu sagen, die Einwohner seien zerstört worden und die Stadt habe man ermordet. Inferenzen von… ach, was soll's.«
Ein paar Stunden später hatten sich die geschwärzten Blätter erholt, am nächsten Morgen standen sie erneut im Saft.»Es gibt ja nichts, womit wir nicht fertigwürden, genügend Zeit vorausgesetzt. Der Keramikspinner, oder die Keramikspinnerin, wenn sie's denn unbedingt so will«— ein Kolloratürchen kam in dem» will «vor, die Schwänin konnte immer sehr schön singen —,»schickt ihre Virengeschwader und doch… diese Feindin weiß, daß wir so etwas kleinkriegen. Es ist kein ernsthafter Angriff, nur eine Drohung. Eröffnung der Kampfhandlungen auf symbolischer Ebene. Dieselbe Choreographie wie in der Langeweile.«
«Du wirst dich überrennen lassen? Warum, aus Pazifismus?«Der Wolf bleckte die Zähne. Sie lachte gutmütig.»Ich geh nicht mit dir zurück in dein trauriges Resteuropa, vergiß es. Die Festung, die der Löwe baut, ist mir zu eng. Ich habe mein Leben gefunden, hier.«
7. Taufe
Am vorletzten Tag seines Aufenthalts weckte sie ihn nachmittags aus seiner Siesta und stand vor ihm in nachtschwarzem Gefieder.
Trauer, dachte er — da kann ich dem König immerhin erzählen, daß sie den Ernst der Lage versteht.
Aber dann sah er, daß in der Schwärze Sterne blinkten wie flunkernder Straß.
«Du kannst es nicht lassen, was? Melodrama. Fliegende Katzen. «Er leckte ihr die Hand, und beide wußten, daß er sie unbeschreiblich arg mochte; ganz davon abgesehen, daß er sie ja liebte.
«Du bist unverbesserlich«, sagte Dmitri.»Nichts ist unverbesserlich«, sagte die Schwanfrau.
Sie führte ihn zum letzten Mal, mit kleinen Gesten, zwischen die Gewächshäuser, ins heimliche Grün und Rosengold. Als sie anschließend baden gingen, ertappte er sich dabei, daß er das erste Mal seit langer Zeit an Lynxchen dachte, an Clea, Lasara.
Alexandra bespritzte ihn mit Wasser und sagte:»Wir könnten natürlich noch schnell heiraten, bevor du abreist. Nicht weit von hier gibt's eine Art Isottatempel, bißchen schäbig, aber… ich habe so viel für die Suche nach dem Wetzelchen gespendet, daß die Habichte mir zu größtem Dank verpflichtet sind.«
Das gab's hier alles auch?
Er schnaubte, prustete, schüttelte sich.
Nach dem Abendessen setzte sie ihm vorsichtig eine Spritze ins Genick, mit, wie sie sagte,»umfangreichen Dateien, die ich ihm gern überlassen will. Er wird sich damit auskennen.«
«Ich dachte, du wolltest ihm nicht helfen.«
«Ich helfe ihm gar nicht, ich investiere nur in meinen Nachruhm. Sollte ich bei den Verwüstungen, die uns erwarten, mein Leben lassen, so weiß ich wenigstens, daß meine Ergebnisse von dem alten Wichtigtuer mit Zähnen und Klauen verteidigt werden. Selbst die, mit denen er nicht froh wird. Er glaubt an militärische Nutzanwendungen, ob's die nun gibt oder nicht. Das reicht mir. Eine Versicherung meiner Arbeit aufs Künftige.«
«Red nicht so morbide, Liebste.«
«Nenn mich nicht Liebste, Liebster. Das rührt mich zu schlimm.«
8. Leb wohl
Sie hatte ihre Vorkehrungen getroffen, daß er sich später nicht zu genau daran erinnern würde. Die letzte Nacht der beiden war ein traurig schönes Ringen zweier Engel im stummen Grund.
Sie redeten dazwischen über Dinge, über die man in Wahrheit nicht reden kann. Er sehnte sich den ganzen Abend danach, einfach ihre Hand zu nehmen und zu verstehen, was mit ihnen beiden geschah. Es wurde spät und später, dann früh, der Mond stieg auf und sank dann wieder.
Sie sagte:»Du Süßer, in so einem schlimmen Zustand und noch so weit zu gehen. Und ich weiß, du kannst nicht sagen, was du denkst, aber das ist schon gut. Die Worte helfen dir nicht, sie lassen dich im Stich. Und ich muß das jetzt leider auch tun.«
Vielleicht, überlegte Dmitri, stimmt es gar nicht, was man uns beigebracht hat.
Vielleicht haben wir gar keine Sprache, weil es Sprache überhaupt nicht gibt.
Als Dmitri Stepanowitsch am Morgen erwachte, war er allein.
Es wurde Zeit für den Aufbruch.
Sein Lager roch neutral, er dachte: Ich bin also wieder mein eigner Herr und hätte doch gern diese Herrin gehabt. Freiheit, wiedergewonnen: Das muß mir nicht gefallen, aber wahr ist es.
Seine Träume waren bizarr gewesen. Nesselröhrenschildläuse hatten sich nachts in seinem Pelz festgesetzt und ihm die jüngsten Nachrichten aus der Heimat eingeflößt.
Es gab neue Ergebnisse der Fische im Wassertorus von Borbruck, die trotz des stetig abnehmenden öffentlichen Interesses an ihrer Arbeit seit dem Mord am Zander unentwegt weiterforschten, für wen oder was auch immer. Diesmal gaben sie Empfehlungen zur Geschlechterfrage ab:»Jeder Mann muß mindestens eine Frau und einen Mann haben, und jede Frau mindestens eine Frau und einen Mann, so daß die kleinste vernünftige sexuelle Gemeinschaft aus vier Individuen besteht.«
Was für eine Verschwendung, dachte der Wolf: Wie viele der Läuse waren gestorben, um Dmitri diesen Blödsinn zu übermitteln?
Was ist das überhaupt für ein Lager, wie bin ich letzte Nacht hierhergekommen? Hat sie sich verabschiedet, war das der Ausklang des Nachtmahls? Er erinnerte sich nicht.
Dmitri Stepanowitsch Sebassus setzte sich auf, sein Kreuz war starr und seine Schädelknochen taten weh, besonders um die Augen und an den Schläfen.