Er horchte in sich hinein und stellte fest: Die Schwänin war weg, er mußte sie aber noch loswerden, um überhaupt wieder leben zu können.
Schon der Gedanke an sie erregte in ihm eine Art trauernder Abwehr. Er zweifelte nicht daran, daß diese neue Empfindung ihr Abschiedsgeschenk darstellte, sie mußte es ihm irgendwann verabreicht haben, vielleicht mit Speichel, oder sogar im Spritzen-Cache für den Löwen. Genauso sicher, und das fand er tröstlich, war sich Dmitri, daß seine Liebe zu ihr nicht das Ergebnis einer ähnlichen Manipulation gewesen war. Ihn wegzustoßen, das paßte zu ihr, ihn einzufangen aber hätte ihrem Wesen widersprochen.
Er würde nie aufhören, sie zu lieben, das mußte genügen.
Der Wolf rieb sich die Wangen mit neuen Händen, trank aus einem Schälchen.
Da hörte er ein leises Pfeifen.
Als er aufblickte, schwebte vor dem zersprungenen Fenster der Dachkammer, die sein Quartier war, ein absurd breites Gesicht. Es war ein Walhai, zwölf Meter lang, grüngrau, mit weißen Punkten. Der Wolf schüttelte den Kopf, als wollte er seine Ohren loswerden, streckte sich, sträubte sich die Spuren der Nacht aus dem Fell. Der fliegende Riese machte ein fragendes Geräusch, anderthalb Oktaven zu tief eigentlich, aber dennoch leicht zu deuten. Der Wolf sagte:»Wo ist sie? Hat sie dich gerufen? Ich weiß nicht mal, ob wir uns verabschiedet haben. «Dmitri rechnete mit keiner Antwort; aber der Ätherschwimmer sagte:»Ich glaube, das kannst du vergessen. Sie ist schon aufgebrochen, nach Süden. Der Armee der Verwüster entgegen. Die ziehen durch die Gegend, als ob sie ihnen schon gehört. Keramikaner. «Er schnaufte zornig und übermittelte dem Sehzentrum in Dmitris Hirn per Sprühspeichel ein furchtbares Bild: Horden, nicht ordentliche Formationen. Brennende Matten, fliehende Gente, sprachlose Tiere in Panik.
«Ich bring dich zum Meer«, sagte der Walhai.
Seine Augen waren klein, aber sie sahen schlau aus. Sein Maul hatte einen gemütvollen, leidenden Zug, als höre er den ganzen Tag impressionistische Klaviermusik, in Moll.
«Bah, nee, nicht die Schwimmerei schon wieder«, sagte Dmitri angewidert.
«I wo, das ist nicht nötig, das war nur die Herreise. Du solltest dir ja das Buckyprojekt der Atlantiker anschauen. Diesmal wirst du mit dem Schiffchen fahren. Dem Eisschiff, unter Käpt'n Patel. «Sein Tonfall verriet, daß das etwas war, worauf der Wolf sich freuen sollte.
«Von mir aus. Brechen wir auf. Hier gibt's nichts mehr.«
9. Allmähliche Verdunkelung
Dmitri Stepanowitsch ging hinter dem Walhai her wie die Israeliten hinter Wolke und Feuersäule, drei Tage lang, landauswärts.
Sie durchquerten neue Steppen, die vor Monaten nicht hiergewesen waren, und sahen ein Rudel ausgemergelter und schmutziger Erdhörnchen vorbeistreichen: Flüchtlinge.
«Die Gegend verkommt schnell«, bemerkte Dmitri.»Wahrscheinlich werden alle, die sprechen können, den Schutz des Löwen suchen. Viele werden übers Meer reisen und ihn bitten, daß er sie in seine Zivilisation aufnimmt, die jetzt ein stehendes Heer wird.«
Der Walhai erwiderte aus seinen Höhen mit voller Baßstimme:»Da bereitet' er sich zu neuen gewaltigen Lügen / ›Könnt' ich des Königes Huld und seiner Gemahlin‹, so dacht er, / ›Wieder gewinnen, und könnte zugleich die List mir gelingen, / daß ich die Feinde, die mich dem Tod entgegengeführt / Selbst verdürbe, das rettete mich aus allen Gefahren. / Sicher wäre mir das ein unerwarteter Vorteil! / Aber ich sehe es schon, Lügen bedarf es und über die Maßen.‹«
Dmitri witterte politische Unzuverlässigkeit bei dem lebenden Luftschiff und lachte.
Der Bursche hatte immerhin Charakter.
«Wir kennen uns lange, du und ich«, sagte der Walhai,»nur hast du mich nie in diesem Leib angetroffen. Der ist neu, ein Geschenk der Atlantiker. Ich war früher, sagen wir… viel grüner.«
Dmitri lachte verblüfft; er hätte es längst erkennen müssen, die Art zu reden, der Humor verrieten es:»Georgescu?«
«Eine Kopie, um genau zu sein — der Fachbegriff lautet jetzt ›Setzling‹. Du hast ein paar technische Entwicklungen von großer Tragweite verpaßt.«
Das war nicht ganz wahr: Dmitri hatte vor seiner Abreise durchaus noch davon gehört, es hatte mit den Arbeiten tun, die Izquierda beaufsichtigte:»Öhm, Setzlinge, das ist… das sind maschinell eingelesene Persönlichkeitsabbildungen — programmierte Gente, nicht?«
Der Walhai brummte bestätigend.
Dmitri riß eine Wurzel aus dem kargen Boden, saugte ein bißchen Kraft, spuckte aus und fragte:»Aber sollte das nicht eher eine Art Sicherung sein, eine Option der… Inneren Emigration in die… felsengeschützten Großrechner? Für einen Introdus? Wieso läßt man solche… Setzlinge auf einem lebenden… schwebenden… Schwimmhirn…«
«Ein Experiment, mehr oder weniger. Ausschließlich auf Freiwilligenbasis. Die Vorschriften sind viel laxer geworden, Cyrus Golden läßt alles zu, was neue Wege geht. Er ist wirklich in Sorge. Ich bin einer von bis jetzt drei Setzlingen, die man in ein synthetisches Lebewesen eingebettet hat. Und wenn du meinen Kopf aufspalten könntest und dir das Ding betrachten, mit dem ich… denke und… ich bin, würdest du schnell wissen, daß das kein Hirn ist, in dem alten Sinn, den du erkennen könntest.«
«Ein biotischer Rechner aber doch.«
«Kleiner als ein Hirn, vor allem. Der ganze redundante Kram ist in andere Welten verschoben.«
«In andere Wel… ah, ein Quantencomputer.«
«Wenn man archaische Ausdrücke liebt.«
Die Comtesse hätte gesagt, daß sie das tut, dachte der Wolf.
10. Akku
Dmitri pißte, müde und niedergeschlagen, an ein verrostetes Autoskelett.
Er dachte an die Comtesse und daran, daß das, was sie für Souveränität hielt, für Stoizismus gar und Würde, einfach ihr verdeckter Selbsthaß war. Sie macht sich häßlich klein, sie will nicht mehr eingreifen in Geschicke, die auch ihre sind, um ihren früheren hohen Ansprüchen an sich nicht länger genügen zu müssen. Man kann ihr nicht helfen.
Hätte er ihr noch etwas sagen dürfen, so hätte er ihr gesagt, daß sie ihm leid tat und daß er sie jetzt los war, ohne daß ihn das erleichterte: Ich kann glücklich sein, und frei, und schön, wenn ich nicht mehr zulasse, daß du mich damit folterst, die gemeinsame Gegenwart immer schon so zu behandeln wie bloße Erinnerung. Wie lange war sie wohl schon so kaputt, so tot, und wie traurig war diese böse Wahrheit, daß sie in ihrem ausgedachten Kulissenleben nicht einmal ahnte, daß sie tot war?
Die Worte des Königs fielen ihm wieder ein: Aber die Lähmung verurteilt die Gelähmte, die Lüge wird zum Gefängnis der Lügnerin und das feige Herz stirbt am eigenen Gift.
Der Walhai dröhnte:»Hör mal, Kleiner. Ich muß ein bißchen ausreißen. Deine Bahn ist… anstrengend für mich, ich sollte mich ab und zu in höheren Luftschichten aufhalten, wegen…«
Dmitri dachte an das, was die Comtesse ihm über Raumfahrt erzählt hatte, und rief nach oben:»Batterien, hm? Teilchenschauer. Ein Akku.«
Das tiefe Summen, das ihm antwortete, war zustimmend.
Die Sonne ging gerade unter. Dmitri schlug vor:»Flieg doch der Nacht kurz davon, hol dir, ich weiß nicht, im Westen mehr Kraft. Ich roll mich hier eh ein paar Stunden zusammen. Die Rast kann ich brauchen.«
«Abgemacht.«
11. Horden
An einem rostroten Fluß fand Dmitri es nötig, die Lage zu sondieren.
Er roch etwas, das konnte heißen, daß die Keramikaner in der Nähe waren. Der Wolf spuckte auf den Boden und ins Wasser. Die Femtospinnen im Sekret waren instruiert, das Gelände nach allen Himmelsrichtungen so schnell sie konnten auszuspionieren und ihm, während er schlief, im Lauf der nächsten Nächte allmählich wenigstens eine Ahnung von den strategisch und taktisch relevanten Verhältnissen zu übermitteln.