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Zwei der andern Kinder waren gleich zur Stelle, griffen ihm mit verwachsenen Nichthänden unter die Achseln, rissen es hoch. Es würgte, drückte mit der Zunge weiße Bröckchen aus dem Mund. Anubis begriff, daß das Zähne waren.

In einem Tonfall, der nicht unbeherrscht, ja beinah freundlich klang, ermahnte der Mann mit dem Stock sein Opfer:»Willst du jetzt zurück an den Wagen, oder sollen wir dich kochen wie die Köter?«

Das Kind hatte sich also irgendwie aus den Seilen, an denen jetzt die Erwachsenen zogen, befreien können, und dann hatten die Erwachsenen die andern Kinder, weil die schneller laufen konnten als sie, von den Fesseln losgemacht, damit sie den Ausreißer fingen. Das war geschehen — was für eine Spezies, gruselte sich das Frettchen, deren Meute man für Bütteldienste befreien, ja buchstäblich von der Leine lassen kann, ohne fürchten zu müssen, daß sie davonlaufen. Warum? Weil man sich darauf verlassen kann, daß das Mobvergnügen ihnen lieber ist als eine unsichere Freiheit.

Anubis hatte genug gesehen. Sein Nest wollte er in der Nähe dieser Monster lieber nicht einrichten. Er beschloß, zu den Freunden zurückzueilen, um Hecate zu fragen, was zu tun war: Sollte man sich mit den Menschen anlegen, einlassen, sie meiden oder sie den Keramikanern zutreiben, um zu erforschen, was geschah? Sollte man nicht das Wappen der Gente als Feldzeichen im Krieg gegen beide, Menschen und Keramikaner, wieder aufrichten?

Anubis fand Huan-Ti beim Schärfen seiner Krallen an einem schwarzen Stein.

Vielleicht, mutmaßte das Frettchen, markierte er damit sogar ein imaginäres Revier.

Hecate wieherte hinter ihm, er blickte sich um: Sie stand auf einem kargen Flecken Wiese, den sie in kurzer Zeit abgegrast hatte.

«Freunde, aus der Rast wird nichts«, pfiff das Frettchen,»ich bin einer bösen Sache begegnet.«

In knappen Worten schilderte Anubis, was er gesehen hatte.

Sein unsicherer Vorschlag, man könnte die üble Gesellschaft ja vielleicht zu Versuchen in Sachen Keramikaner einsetzen, ließ Huan-Ti auflachen. Die Tinkerstute war anderer Ansicht:»Ich finde, wir sollten ihnen aus dem Weg gehen.«

«Hast du Angst vor dem Stock und dem Knüttel?«höhnte der weiße Tiger.

Hecate schüttelte unwirsch den Kopf:»Wir überwältigen sie ohne Mühe, das ist klar. Waffen hin, Waffen her — sie sind wenig mehr als, nun ja, Wilde. Aber die Keramikaner… damit spielt man nicht. Wir rennen nicht kopflos davon, aber wir verringern den Abstand auch nicht ohne Not. Das war die Übereinkunft. Wir überlassen die Menschen ihrem Schicksal, wir haben mit unserem eigenen genug zu tun.«

«Die Menschen ihrem Schicksal überlassen, und einander«, Huan-Ti leckte sich über die Hauer,»davon hab ich gehört. Das ist die Geschichte von der Kannibaleninsel — die erste Zwangsmaßnahme gegen Menschen, die der Löwe verhängt hat, kurz nach der… Gründung von Borbruck.«

Anubis kannte die Geschichte nicht:»Was war das?«

Hecate schnaubte, dann scharrte sie im Erdreich, schließlich sagte sie mit finsterem Gesichtsausdruck:»Man hat sie zusammengetrieben und verschifft. Auf Tankern.«

«Verschifft wohin?«

«Eine künstliche Insel, aus aufgeschwemmtem Korallenbestand. Reich baumbewachsen. Mit Früchten. Etwa dreihunderttausend Leute, manche sagen auch, eine halbe Million — Izquierda, damals noch selbst eine Dachsin…«

«Ach?«Das war Huan-Ti neu.

Hecate nickte:»Ja, deshalb die enge Zusammenarbeit mit Georgescu. Der alte Militäradel des Löwen, die kennen sich, seit sie… weder Fell noch Flügel hatten. Jedenfalls wurden… alle Quartiere der Überwundenen um Borbruck evakuiert, und man erlaubte ihnen nur, ein paar krude Werkzeuge mitzunehmen — Äxte, Schaufeln, Sägen, keine Gewehre. Aber Stoffe, und Material für, na, für ihre Füße.«

«Schuhzeug.«

«Ja. Ein bißchen zuwenig, vielleicht kalkuliertermaßen — ein Experiment der späteren Fledermaus, mit dem man herausfinden wollte, wie lange es dauern würde, bis sie einander an die Gurgel gingen.«

Anubis schauderte.»Wie hast du«, wandte er sich an Huan-Ti,»die Geschichte genannt? Kannibaleninsel?«

«Sie haben einander schon auf der Überfahrt…«, die Tigerzunge hing heraus; Huan-Tis Augen leuchteten: Er fühlte sich im Recht, glaubte, er könne damit den andern belegen, daß Menschen der Abschaum der Schöpfung waren.

«Brrr, wie scheußlich«, fiel das Frettchen ihm ins Wort.

Hecate räusperte sich und fuhr fort:»Es gibt Berichte, die man in Kapseits und Landers studieren kann, in den Archiven. Nicht alle sind in den menschenfressenden Irrwitz verfallen. Es gab auf der Insel Opfer und Täter. So einfach, wie Huan-Ti die Sache haben will, war sie nicht. Wir haben diese Leute erst zu dem gemacht, wovor wir uns dann so ekeln konnten, daß uns unsere Untaten gegen sie rechtschaffen vorgekommen sind. Sie haben selbst die Dokumente geliefert: auf Birkenrinde geritzt, als Tagebücher, Hilfeschreie an ihre Götter…«Der Satz mußte nicht beendet werden.

Huan-Ti schwieg zur Selbstanklage des Pferdes.

Anubis fand, es wäre günstig, das Thema zu wechseln:»Was wollen sie eigentlich mit dem Gold auf ihrem… Treck?«

«Das lieben sie. Das glänzt so schön, ein liebster Fetisch«, sagte Huan-Ti und sah Hecate vorwurfsvoll an,»die Sache gehört zu ihren widerlichsten geschichtlichen Eigenarten, das Anhäufen von abstraktem Reichtum, in Form von Sachen, die man nur zum Tauschen gebrauchen kann… oder sind wir daran auch wieder schuld, Frau Moral?«

Hecate überraschte ihn mit ihrer Antwort:»In gewisser Weise schon. Natürlich nicht am Goldhorten an sich und an den Tatsachen, die du meinst. Aber…«

Anubis fuhr zusammen wie gebissen, als er Huan-Ti brüllen hörte — nun, nicht eigentlich brüllen, verbesserte er sich sofort, weil ihm Eskalationen zuwider waren. Es war mehr ein empörtes Husten gewesen, und den Rachen hatte er auch nicht sehr weit aufgesperrt dabei. Der Tiger schluckte schmatzend und sagte dann:»Schuld? Ich habe unter Ryuneke gearbeitet, meine Liebe, ich weiß Bescheid! Erzähl mir nichts! Schuld! Schuld an ihrem ganzen Wirrwarr, den Verflechtungen, dem Karussell des Geldumlaufs, bei dem am Ende niemand mehr wußte, wer das Ausfallrisiko trägt, schuld an ihren Pyramidenspielen, an ihren absurden Maßstäben — mal gab es einen Goldstandard, mal nicht, und als er weg war, konnte es passieren, daß Gold, in dessen Sicherheit als nicht leicht zu fälschendes, nicht leicht zu vervielfältigendes allgemeines Äquivalent sich die sogenannten Anleger, die Vorratshalter und Zinsfresser flüchteten, in wenigen Jahrzehnten den zwanzigfachen nominellen Wert zugeschrieben bekam. Schuld? Schuld an Inflation, Deflation, Überproduktion, Blasenbildung im Finanzwesen… ich hab Lasara gehört, an der Akademie von Kapseits, ihr Seminar über Wachstum und Wahnsinn, ich war dabei, als sie den großen Vorstoß riskiert hat, gegen Ryuneke, dessen viel zu zahmes neues ökonomisches System noch viel zu viele Anleihen beim alten, aus der Langeweile bekannten, elenden…«

«Eben«, Hecate hatte sich zurückgehalten, jetzt mußte sie ihm dreinfahren, und Anubis dachte nicht zum ersten Mal, daß er wirklich keine Lust verspürte, jemals bei einer ernsten Auseinandersetzung zwischen diese beiden zu geraten,»das ist er doch, der Name, um den es hier geht: Ryuneke. Was glaubst du, mit wem sie handeln, heute noch, diese Menschen, diese Flüchtlinge aus der Vergangenheit, die Anubis gesehen hat?«

Ein obszönes Geräusch war Huan-Tis Erwiderung, dann der Satz:»Mit uns vielleicht, den Gente?«

«Mit Ryuneke Nirgendwo. Er unterhält Handelsposten, überall in den Einöden, auf den unwegigen Pässen — ja, auch direkt vor Izquierdas Nase, im Präferenzgebirge, auch dort gibt's noch Menschen, wie an jedem Ort, den zu zivilisieren und ans Pherinfongewebe anzuschließen sich für die Gente nicht gelohnt hat.«