«Ich laß mich mit dir nicht auf technische Erörterungen ein. Hat mich nie begeistert.«
«Ich weiß, du nutzt einfach die Wirkkraft der drei Clarkeschen Gesetze.«
Jetzt war es an Frau Späth, anerkennend zu kichern. Obskure Anspielungen, die meinen Eigenheiten entgegenkommen: Die Holztante macht Punkte.
Eine Weile hörten beide dem Scharren, Zwitschern, Tschilpen, Rascheln und Knacken des Dschungels zu.
Dann sagte die Menschenfrau:»Ich war ja ein sehr vergrübeltes Mädchen. In der Pubertät vor allem. Hing meiner Deutschlehrerin mit verbissener Treue an, seit die mir mal 'ne schlechte Note im Aufsatz verpaßt hatte, das fand ich unerhört toll, das war mir bis dahin überhaupt nie untergekommen, Deutschaufsatz, das ging sonst immer wie von selbst — und dann sagte die: Du kannst das besser, das ist schlampig, da fehlen halbe Sätze und… Ich meine, es war überhaupt keine Frage, ob hier mit mehrerlei Maß gemessen wurde, ich wußte ja, daß es viel schlechtere Aufsätze gab als den, den sie mir da verübelt hatte, und daß die zum Teil trotzdem bessere Noten kriegten. Aber es stimmte. Schlampig. Fehlendes, Wiederholungen… die andern Lehrer hatten immer drüber weggesehen, es höchstens mal verschämt erwähnt: Schade, Cordula… aber die waren so froh, daß eins von den Bälgern mal ein bißchen interessanter… und dann diese Frau. Du mußt von dir selbst alles verlangen, von anderen darfst du nichts fordern — so hat die mir das eingebimst, das war ihre Art von Elitismus. Harsch, in letzter Konsequenz auch alles andere als richtig — aber sehr hilfreich für eine überreizte Zicke, wie ich war. Das war mein eines, meine erstes Idol, diese Frau, die hat mich auch zur Musik geführt, das fing, da ich schon Klavier konnte, ganz naheliegend an, mit Skriabinplatten, Chopinplatten, dann auf einmal, rrrums, Schönberg, es lief über Gould. Glenn, nicht Stephen Jay.«
Das Gezweig knisterte.
Frau Späth fuhr fort:»Schnell weg vom Klavier, Orchestersachen verstehen lernen, Kammermusik zuerst, Webern kam, Berg auch bald, und danach, lustigerweise, nach diesen ernsten Initiationen, war alles offen, da sind wir dann direkt in die Gegenwart zusammen, Glass, Riley, und schließlich lief öhmtsss stockend und spotzend, aber immerhin, über gleichzeitiges Lernen in der Popmusik, das sie zu unterbinden versuchte, Gott segne die arme Frau, meine eigene Geschmacksbildung an. Zwar ist es mir dann sogar noch zweimal gelungen, Frau… Fuchs-Stockmann hieß sie, stimmt… zu beeindrucken, nämlich mit Robert Wyatt und mit irgendwas ähm auch Tüftlerischem, aber aus der Tanzecke, Elektronik — aber da drifteten wir schon auseinander. Lag auch an meinem zweiten Idol. Das war… Katja. Unfaßbar. Wer sie nicht kennengelernt hat, dem kann ich überhaupt nur den blassesten Begriff…«
Sie unterbrach sich selbst beim Reden, weil sie sich fragte, wem sie das erzählte und weshalb.
Der Baum blieb aufmerksam, und noch erstaunlicher: Man konnte das spüren, ja gar nicht übersehen. Die Atmung durch die Lentizellen, der Wohlgeruch des Interesses rund um die Bruchstellen der alten Haut, das schnelle Fließen der Informationen durch die Adern der Blätter: Ich rede hier, dachte Frau Späth, offenbar von etwas, das sie sehr angeht, oder wovon sie zumindest glaubt, daß es dies tut.
Nun gut:»Es gab da vorher schon ein paar Freundinnen, in aller Unschuld, Kiki und Bettina und diese und jene. Aber Katja Benante: Dieser Wirbel, das kam… wie eine neue Linse, durch die man guckt — ich hab sie anfangs immer nur aus der Ferne bewundert, beim Tischtennisspielen gegen Sonja, beim Tanzen auf den Feten, wie die dunklen Locken geflogen sind, wie dieses lange Gesicht lachen konnte, und die Sommersprossen natürlich, die wie so Pünktchen bei Comicfiguren, wenn sie geschockt sind, mehr um das Gesicht rumzutanzen schienen als drauf fixiert zu sein… und dann war sie ja zum Glück so dermaßen promisk bei ihren Freundschaften, fast schon wahllos, ich mein, sie konnte nie genug kriegen, sie wollte mit allen alles unternehmen, und alle wollten das mit ihr. Mich hat sie anfangs, als sie merkte, daß ich ihre Nähe suchte, immer in den Pausen zum kleinen Kiosk geschleppt, den der Hausmeister betrieben hat. Der war bis mittags geöffnet, und in so einem Glaskasten, da wollte sie immer Duplos kaufen, und da das die andern Mädchen genervt hat, weil die auch nicht soviel Süßzeug immer essen wollten, figurbewußt nannte man das damals, schon bekloppt — Katja hat nie erkennbar zugenommen, sie war zwar nicht klapperdürr, aber halt… na ja stramm, verstehst du, blühendes Leben — wahrscheinlich hat sie die Extra-Energie, die sie sich in Form dieser Zuckerbomben reingetan hat, immer sofort wieder verbrannt mit dieser unfaßbaren Beweglichkeit, diesem Ganztagsfeiern, jeden Tag in jeder Woche. Sie hatte so eine Art, um die Ecke zu kommen… Johanna, die sie auch mochte, hat immer gesagt: Das kann sonst niemand, so um die Ecke wetzen, als ob es um jede Ecke rum gleich noch mal die ganze Welt gibt, als ob man da dringend hin muß. Das war so, pöh, wie soll ich sagen, befeuernd, man wollte ihr einfach gefallen — meine ersten Sachen, die ich selber geschrieben habe, kleine Popsongs, aber immer schon mit ›langen komischen Stellen‹ in der Mitte oder am Ende, wie Katja das nannte… die habe ich ihr zuliebe so gemacht, wie sie waren, weil sie beides mochte, wenn es catchy war und zum Mitpfeifen, aber eben auch diese sogenannten Stellen, diese atonalen oder… Zum Abi habe ich dann alle Sachen, die ich bis dahin komponiert hatte, einfach weggeschenkt, als eine Art absichtlicher Zäsur, die Tapes und die Notenblätter und die Dateien, alles, wie um zu sagen: Das ist mein Frühwerk, ob es verschollen ist oder nicht, liegt bei euch — und das längste, das Konzeptalbum, die erste Oper sozusagen, habe ich Katja geschenkt.«
«Was ist damit passiert?«
«Glaubst du das«, sie lachte,»die hat das verbummelt. So war sie. Obwohl wir da schon… ich meine, das war meine große Liebe, verstehst du, und nicht zuletzt deshalb, weil es ja dann schließlich sogar erwidert wurde. Ich erinnere mich an den Abend, als mir das zum ersten Mal aufging, daß es nicht dabei bleiben mußte, daß ich sie aus der nahen Ferne anhimmle, sondern daß da wirklich was gehen kann, mit uns. Wir hatten… es war ein Theaterabo, kollektiv, der ganze Leistungskurs, das hatte diese Frau Fuchs-Stockmann organisiert, und wir fuhren also nach Basel im Bus, als… das Stück, also das war grauenhaft, so ein abstrakt absurder Knetkram über das Elend des Menschen im fordistischen Dingsbums, es gab da diese eine Handbewegung, am Hebel, in der Fabrik, die immer gemacht werden mußte, von den Figuren, aber pantomimisch, das heißt, es war gar kein Hebel da und… ich habe es kaum ausgehalten, bis auf… ich habe Katja beobachtet, den ganzen Abend lang, wie sie das, ich meine, wenn schon ich, die ja eigentlich offen war für schwerste Kunstgenüsse, da Hummeln im Hintern hatte… wie würde so eine sprühende… und tatsächlich ist sie rumgerutscht, als säße sie in einem schwankenden Boot, es war wirklich ganz allerliebst, wie dieser superlebendige Körper sich dem Schwachsinn und der Verödung auf der Bühne zu entziehen suchte, bis sie schließlich sogar die Zurückhaltung aufgab, die uns verboten hat, den Kopf hin und her zu drehen — sie saß eine Reihe vor mir, schräg, drei Plätze weiter, und drehte sich um, und sah mich an, und sah, daß ich sie sah, und da wußte ich es, das war, wie wenn es wieder so um die Ecke gewetzt kommt, dieses, wie Johanna sie deswegen dann taufte: dieses Wetzelchen.«
7. Anschlag
Esprit war wieder einmal gekommen, der höchste Feiertag der Hunde, inzwischen ein alles andere als liebliches Fest. Die Ausrichtung trug Merkmale des Angebrannten, Überholten, Ungewollten. Der Zorn und die Angst der Gente nahm häßliche Züge an: Wo man an den Rändern der Städte noch Menschen fing, die es nicht in die ausgeschilderten Flüchtlingszonen geschafft hatten, wurden viele von diesen aus Anlaß des Jahrestages gebunden und öffentlich verbrannt. Der Gestank drohte mehrere Tage lang sogar die königlichen Pherinfone zu ersticken, von denen immer dieselbe Parole ausging: Wir werden sie aufhalten, wir werden sie abwehren.