Wer war» wir«?
Der König, den Dmitri heute aufsuchte, um eine ganz besondere Nachricht zu überbringen, hatte sich ins Sandelholzzimmer zurückgezogen, dessen Wände inzwischen ganz mit Schwingspiegeln ausgekleidet waren. Um ihn wucherten Satellitenaufnahmen wie exotisches Unkraut.
Er sah älter aus als je, aber längst nicht besiegt.
Dmitri ertappte sich dabei, wie ihm der Anblick hohe Achtung und etwas wie Liebe einflößte — vielleicht chemisch induziert, aber es fühlte sich aufrichtig an. Der Wolf mußte an seinen toten Freund, das Laufschwein, denken und fragte sich, ob der Löwe von hier aus zugesehen hatte, auf diesen Schirmen, als Hébert ermordet worden war. In die meteorologischen Aufnahmen waren Diagramme der beschleunigten genetischen Drift infolge des Feldzugs der Keramikaner eingeschaltet. Es sah alles trübe aus.
Als wäre er ein Mime auf dem Theater, begann der König, melodisch und durchdringend zu erläutern, wie sich der Zustand der Welt für ihn malte:»In alter Nomenklatur: Afrika haben sie ganz, China zu größten Teilen, die amerikanischen Kontinentalhälften ohnehin. Wir werden uns verschanzen, lustigerweise eben dort, wo die erste tellurische Technozivilisation, die menschliche, die wir vielleicht allzu flapsig die Langeweile getauft haben, vor Tausenden von Jahren ihren Anfang nahm. Der Feldzug…«
«Es ist kein Feldzug«, Dmitri hatte nicht vor, sich auf die hohltönende Propaganda länger einzulassen. Ihm war freies Geleit zugesichert worden, obwohl er in Georgescus Datenbanken als Deserteur geführt wurde. Die Werft, die ganze Insel und alle, die dort arbeiteten und lebten: Das war eigentlich in Acht und Bann. Er nicht: Zeitlebens, dachte er, bin ich Diplomat.
«Kein Feldzug?«Der Löwe schmunzelte, er wußte immer noch, wie man den Eindruck erzeugte, mehr zu wissen als alle anderen.
«Jedenfalls nicht mehr, als das Verschimmeln von altem Brot ein Feldzug des Schimmels gegen das Brot ist.«
Der König atmete laut aus und sagte:»Verstehe. Sie hat dich beschwatzt. Schimmel. Ein Bild — man kann das so sagen, aber ein passenderes fände ich das von der Verkrebsung lebenswichtiger Organe. Ich bestehe nicht darauf, daß das Karzinom gegen den Organismus Krieg führt. Aber ich glaube nicht, daß der Körper vor dem Krebs davonlaufen sollte. Oder daß das überhaupt geht. Sie glaubt das. Ihr Vorrecht.«
Sie: Das war die in den zwei verbliebenen Städten mittlerweile Unaussprechliche, Lasara.
«Ich sehe, man steckt hier«, erwiderte der Wolf,»immer noch alle Ressourcen«, ein Blick auf die Laufbänder im unteren Drittel der Spiegel, wo Ziffern der Munitionsfabrikation und der Aufmärsche in Listen entlangliefen,»in die Vorbreitung einer Gegenoffensive.«
«Ich habe mich nun mal den Dachsen verschrieben. Sie haben tapfer um Landers gekämpft.«
«Siebenunddreißig Millionen Tote oder Verschwundene, Zivilisten alle, zu den gefallenen Dachsen, und der Schutzherr spricht von Tapferkeit.«
«Wovon soll ich denn sprechen? Du bist zu jung, Wölfchen. Du kannst nicht urteilen. Georgescus neue Doktrin gefällt mir: unglaublich weit zurückziehen und dann vernichtend schlagen. Und währenddessen darf ich zusehen, wie alles vernichtet wird, was aus dem Samen der Hundertvierundvierzigtausend sich zu so hoher Blüte und Macht hat aufschwingen können.«
«Drei Städte. Dann zwei. Bald eine. Endlich keine mehr.«
Der König griff sich in den Kinnbart, wühlte darin herum, betrachtete den Wolf sehr lange.
Dann sagte er:»Nun, Städte… Sie haben für unsere Feindin den Vorzug, daß deren Bewohner nicht weglaufen können. In Landers… haben sie ein altes Archiv mit Geschichten aus der Langeweile gefunden, die Keramikaner. Nanokonserviertes Schichtpapier, alterungsbeständig. Sie haben es ins Wasser geworfen, im großen See. Es quoll auf. Sie haben damit ihre Wunden versorgt. Das heißt also, sie hatten Wunden. Sie leben, man kann ihnen Wunden schlagen, sie können sterben. Ja, ich rede von Tapferkeit.«
«Ich nehme nicht an«, Dmitri gab sich Mühe, sarkastisch zu klingen, und schämte sich zugleich ein bißchen deswegen,»daß hier viel darüber nachgedacht wird, daß auch wir — Lasara, ich, die andern, die an der Arche arbeiten — Verteidigungsanstrengungen unternehmen müssen, die unser knappes Budget belasten. Aber nicht etwa gegen Katahomenleandraleal, sondern…«
Der König winkte ab:»Ach, gegen mich, ich weiß«, er gab sich keine Mühe mehr, die schwere Erschöpfung und sein großes Angewidertsein zu verbergen. Er hat Größe, es ist wahr, dachte der Wolf und erinnerte sich, daß er gern Diener dieses Herrn gewesen war.
Nicht mehr: Jetzt mußte ein anderer, schwerer Auftrag erfüllt werden.
Der offizielle, mit dem er sich angemeldet hatte, einen Waffenstillstand mit dem Löwen auszuhandeln, war nur Vorwand. Er schuldete es dem Monarchen —»er ist kein König, das sind romantische Flausen, er ist ein Diktator auf sehr lange Lebenszeit «hatte Lasara geschimpft —, daß er die Wahrheit sagte:»Ich bin hergekommen, um…«
«Mich zu töten, ich weiß. Was willst du tun, Wölfchen? Mich mit Mikrokokken angreifen, Vibrionen, Perrhobaktern, die auf mein verbessertes Immunsystem zugeschnitten sind? Mich mit Laserstrahlen versengen, mit Napalm besprühen, mich ersticken, garrotieren, schneiden, schlachten, spießen oder rösten?«
Der Wolf schwieg, preßte die Zähne zusammen.
Was fehlt diesem Herrscher? Sertsa. Seele. Die hat er nicht. Es ist, als gäbe es ihn gar nicht, nein, komplizierter: Als habe er sich womöglich sich selbst nur ausgedacht und sei eigentlich ein anderer, kleinerer, engerer.
Der Löwe fing an, zu lachen.»Natürlich. So ist sie. Selbstverständlich. Alle Achtung. Evolution: Das liebt sie, daran glaubt sie, das hat sie von ihrer Mutter.«
Der Wolf atmete schneller. Der Löwe sagte:»Warum nicht, also ein Zweikampf. Ein altmodisches Attentat. Der Schnellere, Stärkere, Zähere… der… Bessere gewinnt.«
«Ich kann es schnell erledigen. Es muß nicht weh tun«, sagte der Wolf gepreßt und fragte sich, woher er solche absurden Sätze nahm, wie er hier hereingeraten war und wie das alles enden sollte.
«O nein, so nicht. «Der König tänzelte leichtfüßig von ihm fort, sah ihn dabei unverwandt an; der Blick behielt etwas Hypnotisches.»Du wirst das ordentlich erledigen, wie man's dir aufgetragen hat. Wir werden uns aneinander messen. Du wirst mich hier, in meinem Sanctum, anspringen wie ein notgeiler Bock, du wirst dich mit mir auf diesem glatten Boden wälzen, wir werden unsere Zähne in die Körper schlagen. Und wenn du es schaffst, mein dummer Junge, dann wird sie es austragen. Wenn nicht, wird sie es töten, denn dann ist dein Erbgut nicht nach ihrem Geschmack.«
«Es aus…«
Der Löwe schüttelte die Mähne, als er sah, daß Dmitri gar nicht wußte, wovon er redete.»Dein Kind, du ganz mißratener Schwiegersohn! Sie hat's dir nicht verraten? Was sie unterm Herzen trägt? Mir hat sie es gezeigt, in meiner Lichtkammer, wo man so etwas nicht fälschen kann. Sie hat mich nicht absichtlich drauf hingewiesen, aber sie wußte, daß ich alles sondieren lasse. Sie blieb sehr lange stehen, unter den Bildnehmern, bevor sie abgerauscht ist, mit ihrem ganzen Frondeurshofstaat.«
Der Wolf wußte nicht, ob er das glauben sollte, ob es eine freche Lüge war, um seine Entschlossenheit zu prüfen, um ihn zu verstören — aber eins war richtig: daß er den Löwen jetzt anspringen mußte, daß er ihm die Kehle herausreißen mußte, als wäre der König ein jämmerlicher Mensch. Er duckte sich, trat zwei Schritte zurück und knurrte.»Laß mich nur weiter raten, es macht so großen Spaß«, spottete der König,»in deinem Blut und Speichel ist etwas, nicht wahr? Eine noxische, toxische… auf mich abgestimmt, durch die Wunde sofort in mein System damit, alle Filter und Schutzstoffwechsel überwindet es… Du hättest dich nie auf das Biest einlassen sollen. Denk, solange du noch lebst, an meine Worte: Man flieht die, die einen gemacht haben, sonst werden sie einen zerstören. Du hättest nicht mit deiner Mutter schlafen sollen, kleiner Hund.«