Er wußte: Wenn es soweit sein wird und ich aufbreche, kehre ich vielleicht nie zurück. Das tat auf eine Art und Weise ein ganz kleines bißchen weh, die ihm gefiel.
Einer der Freunde mit Fell redete, wenn Feuer nach der Aufgabe fragte, immer vom» Plan«:»Du bist ein Junge, dann wirst du ein Mann, dann eine Frau und dann ein Mädchen, das ist der Plan. Das passiert alles unterwegs, im Zug der Reise. «Der Pelz dieses Freundes war eisgrau war bis auf die Ohren, unter denen grüne Härchen büschelweise nach allen Seiten abstanden.
3. Der Vasch
Zu festen Zeiten, in immergleichen Abständen, die für Feuer allerdings im Lauf der Wochen zu schrumpfen schienen, besuchte ihn in der großen Halle, wo die meisten lichtbelebten Oberflächen waren, der Vasch.
Vor dem Vasch hatten die Freunde mit Fell große Achtung. Auch Feuer lernte, ihn zu respektieren, denn der Vasch wußte alles übers Kochen, übers Essen, über die Gesundheit und das Lebendigsein.
Der Vasch hieß Wempes, war lang und schlank, mit muskulösen Beinen, sein Körper lag fast waagerecht auf den Oberschenkeln. Seine Augen hatten schwarze Ränder, sein Maul war breit, die Zähne blitzten spitz und klein. Alle Vaschen, von denen Feuer je erfuhr, lebten jenseits der Landestelle der alten Schiffe, auf dem unfesten Grund, in den blasenwerfenden, bleigrauen Sumpfmarschen.
Jeder mochte die Vaschen, selbst die Salamander.
Als der Vasch Wempes Feuer die Baupläne der alten Arten gezeigt hatte, kam Feuer ganz allein darauf, wie die Vaschen komponiert worden waren:»Dein Leib, das Eigentliche — das waren früher die Seeleoparden, in den kälteren Meeren, auf der alten Welt, richtig? Und die Beine, das sind stärkere Varianten von Vogelbeinen, Großlaufvogelbeinen.«
«Strauße hatten solche wie ich, das ist wahr.«
Der Vasch besuchte Feuer als, wie die Freunde mit Fell sagten,»Gastdozent «im Fach Biologie. Manchmal kochten sie auch zusammen, etwa Fleisch von Sprachlosen aus den Tunnelsystemen des Ultimervulkans.
«Was du zuerst verstehen mußt, ist die Evolution«, mahnte der Vasch, als Feuer, unwillig, ihm zuzuhören, lieber mit den Plastahlmodellen der Gente und Menschen spielte, die der Vasch ihm mitgebracht hatte.
«Evolution verstehen, pfffps. Wir können ja doch nichts dran machen. «Damit meinte Feuer, daß sehr vieles verlorengegangen war, was die Gente besessen hatten: Die Technik der ambulanten Züchtungen, die metamorphischen und proteischen Nanoniken… Alles, was die Tatsachen der Evolution aus der Naturgeschichte in die Geschichte geholt hatte, war zwar in Datenbanken noch vorhanden, konnte aber auf der Welt, die Feuer bewohnte, kaum angewandt werden, weil — ja, warum eigentlich?
«Ah, nichts dran machen, richtig, Junge. Aber was sind die Gründe dafür, hier bei uns?«fragte der Vasch herausfordernd und zog die Oberlippe hoch.
«Na ja öhm weil hier zuwenig lebt und weil wir deshalb eben zusehen müssen, wie wir unverbessert über die Runden kommen.«
«Richtig«, der Vasch neigte den Kopf ein wenig nach vorn, schmatzte und sagte:»Es ist eine Frage der vorhandenen Biomasse und des allgemeinen Reichtums — die Gente lebten damals in einer Ökotektur ohne Mangel, sie hatten eine selbstkorrigierende Homöostase erreicht. Deshalb, weil das, na sagen wir, ein erstrebenswerter Zustand ist, wollen wir beide, du und ich, uns die Evolution und ihre Gesetzmäßigkeiten noch einmal zusammen anschauen.«
Er aktivierte ein paar lichtbelebte Oberflächen und stellte dazu zwei hologrammatische Würfel in die Mitte des Raumes, die bald tanzende Konfigurationen zeigten, um seine Worte in Bewegung auszudeuten.
Den Anfang machten Blasen, Sphären, Eier:»Chemisch aktive, räumlich abgeschlossene Einheiten, deren interne und den Verkehr mit der Umwelt betreffende Vorgänge von genetischer Information gesteuert werden«, sagte Wempes.
«Klar: Zellen«, sagte Feuer.
«Die Evolutionstheorie der Langeweile, die Evolutionstheorie der Menschen also«, sagte der Vasch und genoß blinzelnd die Mehrdeutigkeit der beiden Genitive,»ging zunächst von der falschen Seite an die Sache heran: von oben nach unten — sie fingen mit den hohen Taxa an, mit den Verteilungskämpfen im Ringen um Reproduktionserfolge, mit den Spezies, dem Agonalen, der Kontingenz der Konkurrenz. Wo diese Denkvoraussetzungen einmal gegeben waren, mußten die Menschen natürlich zu dem Schluß gelangen, daß sich die Entwicklung der Arten zwar entlang einer Achse zunehmender Komplexität vollzogen habe, daß diese Richtung, dieser Zuwachs aber weder universal noch unvermeidlich gewesen sei. Im Hinblick auf die Diversität der Arten«, Lichtpfeile zischten zwischen den Modellen hin und her, Stammbäume wurden skizziert und wieder verwischt,»war das durchaus richtig, aber auf der Ebene, um die es eigentlich hätte gehen sollen, wäre eben doch eine innere Notwendigkeit des ganzen Ablaufs zu erkennen gewesen, die nichts mit romantischen Vorstellungen von Vorsehung oder Orthogenese zu tun hat. Ansätze dazu, dies zu begreifen, gab es zwar schon während der Endphase der Langeweile — man studierte das genetische Material, das war die Genomik, und die Proteine, in der Proteomik, und die Substrate der metabolischen Pfade, in der Metabolomik. Aber erst die Gente haben sich der Sache richtig herum genähert: von den chemischen Systemen selbst her, den molekularen Komponenten in ihrer Gesamtauffächerung. Struktur, Thermodynamik, Kinetik. Über das Leben nachdenken als Chemiker, nicht als Hundezüchter. Die Form kommt nicht nur von den geordneten Strukturen, die den Menschen schon beim Zeichnen und Malen auffielen, sie kommt auch von den Beschränkungen dynamischer Flüsse, von der Organisation. Die Abfolge der Artentstehungen war keine beliebige Sukzession von… sagen wir: anekdotischen Organismen. Die Sauerstoffanreicherung, die Oxidation der Biosphäre — daraus vielmehr folgte geradezu deterministisch alles, was die lebendigen Chemotypen waren, was sie sind, bis zum heutigen Tag, auf inzwischen drei uns bekannten Welten. Der Prozeß der Evolution, ungeachtet aller Zufallsvariationen auf Speziesebene, verläuft gerichtet, nämlich logisch eingebettet im chemischen Gesamtsystem so einer Welt — das ganze Ökosystem, alle Ökotekturen, sind von Energiedegradationen angetrieben, die eine definitive Richtung haben. Der Sauerstoffgehalt nimmt zu — erst kommen die anaeroben, dann die aeroben Prokaryoten, dann die Eukaryoten, dann die ersten interessanten multizellularen Organismen, dann die Tiere, dann die Menschen, dann die Gente, die Keramikaner… Zwei Milliarden Jahre vor dem Ende der Naturgeschichte, das, wie du weißt, von der Geburt der Gente markiert wird, legten die Bakterien den ersten revolutionären Schalter des irdischen Mechanismus um, als sie Sauerstoff ausschieden und damit eine Veränderung in der Verfügbarkeit gewisser Elemente auslösten. Solche Umwälzungen sind das Entscheidende — nicht irgendein imaginärer Gleichgewichtszustand, den die Menschen ›Gaia‹ nannten. Es gibt die große Wabbelwahrheit nicht, in der sich alle wohlfühlen können.«
Es wurde kühler im Raum; die Leuchtverbindungen zogen sich zusammen zu einem Punkt, der einmal hell aufflammte, dann verschwand.
4. Die ganz Dummen
Die Freunde mit Fell brachten Feuer bei, wie man schneller lief, als das Silberwasser im Bach unter Feuers Zuhause sprudelte; wie man an den Wolken erkannte, was für Wetter kommen würde und wovor man sich dicht am Boden in acht nehmen mußte.
«Hüte dich«, sagten die Freunde mit Fell,»vor allen, die unbedingt Menschen sein wollen, und vor deren Maschinen und vor den Eltern derer, die Menschen sein wollen, und vor den Eltern der Maschinen und vor den Kindern derer, die unbedingt Menschen sein wollen, und vor den Kindern der Maschinen. Hüte dich vor allem, was aus Atalanta stammt und aus Niobe und aus den Kolonien in der Gegend von Lavinia. Die dort wohnen, wollen dich töten, falls sie dich kennen.«