Das neue Holz würde, vereinbarungsgemäß, von dem Stamm genommen werden, der aus Liviendas letzter Saat gewachsen war. Der stand in der großen ersten Burg am Nordpol, eine Art Kreuz auf dem Reichsapfel.
Sankt Oswald hoffte — vergeblich, wie er bereits ahnte —, daß ihn die, die ihm das Holz bringen wollte, dabei nicht zu sehr mit ihren Aufträgen und indiskreten Fragen demütigen würde. Er hatte sich fest vorgenommen, nur diejenigen Teile seines verlebten Leibes von ihr ersetzen zu lassen, die es absolut nicht verschmerzen konnten, weiterhin unersetzt zu bleiben.
Die Lieferantin war ihm, der von sich und den anderen Aristoi manchmal schwermütig als von» den Emigranten «sprach, einerseits eine gute Freundin, andererseits aber ein Greuel. Er wünschte manchmal, er könnte sie, die weder Emigrantin war noch hier geboren, endlich vergessen.
Sankt Oswald sehnte sich überhaupt oft danach, etwas oder jemanden endlich vergessen zu können.
Bei seinen regelmäßigen Gedächtniswäschen tauchte immer wieder Schmutz aus dem Flusensieb der Jahrhunderte auf, der dort unter traumatischen Umständen hängengeblieben war. Manchmal schickte dieser Unrat sogar halluzinatorische Echos in den Alltag der Puppe — seit jüngster Zeit, das heißt, seit der letzten Generalüberholung seiner Spintronik, hörte Sankt Oswald in hypnagogischen und hypnopompischen Phasen sogar den Pudel wieder bellen, der einst Kurator von Sankt Oswalds Museumsheimat gewesen war, und selbst der Esel Storikal schaute ihm hin und wieder aus einer Tasse Kaffee dummdreist ins Gesicht.
Man soll, fand Sankt Oswald mittlerweile, nicht so alt werden, wie ich bin.
Unter lebensmüden Erwägungen wartete er auf Ersatz und Neuigkeiten und ließ dabei den müden Blick die Kopie der Kopie der Kopie eines Tausende Male restaurierten Gemäldes des Affen Stanz diagonal, längs und hochkant entlangwandern, die über seinem langen Eßtisch hing, guck hier, guck da, such den goldenen Schnitt.
Durch all die Restaurationen hindurch ist vermutlich kein einziges Atom mehr in dem Werk zu finden, das bei seiner Erschaffung durch den Maler dazu gehört hat. Und doch, sann Sankt Oswald, ist es dieselbe Arbeit, so wie ich, an Haupt und Gliedern viel zu oft erneuert, derselbe bin, der ich vor langer Zeit war.
Die große Standuhr auf dem Flur schlug siebenundzwanzigmal, furchtbar langsam.
Sankt Oswald fragte sich, ob er verrückt wurde, weil er mit dem Ding redete, als gälten die Schläge ihm, als müßte er die Zeit besänftigen:»Nu mhmpfh laß mal, ist ja gut, alte Uhr, doofe alte dumpfe Uhr, mit deiner ewigen andauernden saublöden verrinnenden Zeit, mit den Äonen und Epochen, und alles raffst du weg und nagst du klein. Ich aber, brr, ich sitze da, mit meinem ins Gesicht geschnitzten Grinsen, nein, will mich nicht beschweren, ist schon recht. Ich hab's vielleicht, was weiß denn ich, nicht so gemeint, blöde Uhr, blöde Zeit, obwohl, doch, genau so hab ich es gemeint, soll ich nicht lieber stille sein? Soll ich dir schmeicheln, Zeit? Das könnte dir so passen. Ein Lob, ein Preis der mächtigen Zeit, Mörderin wehrloser sterblicher Wesen. Nein, entschuldige mal, das war gemein. Obwohl mir ein bißchen Gemeinheit, mußt du verstehen, ganz guttäte. Ich habe, stell dir das nur vor, mindestens zweihundert Jahre lang nicht mehr dreckig gelacht — das war früher mein ganzer Lebensinhalt, das dreckige Lachen. Ich lache nicht mehr, aber ich respektiere dich, Zeit, weil du, wenn du lachen würdest, dreckiger lachen könntest als alle, da du nämlich eine große Sau bist, die mich zerquetschen kann wie einen Dings. Nein, falsch: Ich liebe dich, es sei denn, du willst das nicht, dann fürchte ich dich, weil ich dich hasse.«
Die Uhr war fertig mit ihren siebenundzwanzig Erwiderungen, alles schwieg.
Sankt Oswald sah benommen aus dem Fenster; das besserte zumindest seine Laune.
Er mochte die vielen da unten, von denen sich zwar kaum noch welche selbst als Gente sahen, und längst nicht alle als Aristoi. Aber sie hatten, wie hieß das? Format.
Da er in der Vorzeit großgeworden war, betrachtete er das Gewimmel als ein gutes Zeichen: so heidnisch unbekümmert wie nur je im alten Rom, eifrig, von einer Lebenskraft, welche man, um auch die ferne Herkunft aus den Genen der Gente nicht zu übersehen, durchaus» animalisch «finden konnte — keine Spur von der Melancholie, vom Stumpfsinn, nichts auch vom dekadent Ungesunden der letzten Tage von Landers, Kapseits und Borbruck, keine Spur der künstlichen Munterkeit in den Zwielichttagen der Mondsiedlung.
Kulturkraft, blühend: ein merkwürdiges Volk, eine seltsame Zeit.
Die Gente, die Lasaras Plan damals zugestimmt hatten, waren davon ausgegangen, daß man sich an sie als an Götter erinnern würde. Hatten die Aristoi Götter?
Wenn ja, dann keine, in deren Furcht man sich selbst zu vergessen gehalten war. Mit Versmaß und Zeitmaß und Gesetz ausgestattete Götter? Nichts da, hier wurden keine Epen mehr gedichtet, nicht einmal Romane, nur eine lange, vielfältig verästelte zweite Naturgeschichte, nachdem das Epos der gentilen Unnatur seinen unnatürlichen Gang gegangen war.
«Ist sie schon da? Durch den Bogen gekommen?«
Die Roboter schwiegen, und Sankt Oswald wußte, daß das immer nein bedeutete (er hatte sie selbst so programmiert, das sparte Energie). Sie war volle dreieinhalb Stunden zu spät dran; eine extreme Unverschämtheit für diese Person, da sie ja eigentlich nicht an den normalen Fluß der Zeit gebunden war.
Um sie (als wär das möglich) wenigstens zu beschämen, saß Sankt Oswald immer noch beim Frühstück: Wolframglühdrähte, Blätter, Musik aus der Langeweile; damit sie nicht sah, daß er heute morgen nichts Besseres zu tun hatte, als auf sie zu warten. Langsam aber war er bis zum Platzen voll, weitere Aufnahme von Stärkungsmitteln empfahl sich nicht, konnte sogar schädlich sein. Bevor er noch zu einer Entscheidung darüber gelangen konnte, was er mit der restlichen Wartezeit anfangen sollte, klingelten endlich Glasglöckchen unter den Tragbalken, neben den Quecksilberschwingspiegeln und sogar über den Weinflaschen auf seinem Tisch. Unwillig wedelte er mit der zarten Marionettenhand:»Sicher, schön, bissige Scheiße, was denn jetzt noch?«
Ein konischer Bedienter rollte nah heran und sagte:»Wir haben eine Anmeldung, eine Eintragung in den Besuchsbüchern vorliegen — Raphaela Dictioniga Römer und Eon Nagegerg Bourke-Weiß haben ihr Kommen annonciert, sie möchten ein bißchen spielen, schmuddeln, reden und…«
«Fein, ich geruhe gleich zu kotzen«, rülpste Sankt Oswald ungehalten. Er haßte, bei aller Liebe zur Gattung an sich, alle Aristoi aus diesen beiden Familien, mit ihrer Wagenburgmentalität gegenüber dem, was zwischen den Burgen war, mit ihrem ewigen pikierten Schweigen übers experimentum crucis, er haßte es im Grunde, daß sie Aristoi waren, fiel ihm plötzlich auf, ja, es war ihm zuwider, daß sich überhaupt irgendwelche Leute Aristoi nannten statt Gente, der paar mickrigen Verbesserungen wegen, die sie spazierenführten. Gerade hatte er sie geliebt, jetzt haßte er sie, so war das im höchsten Alter. Es ekelte ihn an, daß sie den Mars neuerdings» Ares «nannten, es schauderte ihn vor den mythologischen Mätzchen, mit denen sie ihre Wichtigtukultur ausschmückten: daß man jetzt Stücke spielte, Filme programmierte und Algorithmen Literatur verfassen ließ über Aphrodite und Ares und darüber, wie der Schmied Hephaistos zwischen diese beiden Götter geraten war.
Wozu der Schnokus?
Um damit phantastisch zu überhöhen, was seit den letzten Nachrichten von der Erde die Furcht aller Marsbewohner war, nämlich daß das harmonische, gegeneinander restlos gleichgültige, inzwischen bis auf sehr wenig Funkverkehr mit den sogenannten Siebenvierern der andern Welt praktisch vollständig kommunikationsfreie Nebeneinanderherexistieren der beiden Geschwisterzivilisationen in Gefahr geraten könnte, weil sich die Erde, der Schmied Hephaistos eben, erneut bemerkbar machte, und zwar auf die unangenehmste Art, auf die man sich bemerkbar machen kann, durch völliges Verstummen?