Sankt Oswald verabscheute, jetzt endlich wurde ihm das bewußt, schlankweg die gesamte angeblich so hochverfeinerte, in Wahrheit rohe, abgeschmackte Manier, in der Leute wie diese Raphaela und dieser Eon ihre dürren Mores so zurechtbogen, daß sie sich vor ihrer historischen und politischen Verantwortung verstecken konnten.
Am Allerobszönsten fand er, daß Raphaela Dictioniga Römer und Eon Nagegerg Bourke-Weiß seine Nähe suchten, um ihn in ihre faden reenactments hineinzuziehen:»Ich bin Phobos, er ist Deimos«, quakte Raphaela dann gern, oder Eon sagte:»Sie ist Aneros, ich bin Eros«, und Sankt Oswald durfte den Doppelstecker geben, das Scheibchen Geist zwischen zwei Hälften Fleisch, oder man übertrug ihm die Regie, wenn die beiden Abstoßenden aus so einer Sache wieder einmal einen Film zu machen begehrten, vielleicht sollte er beißwütige Kinder aus den Gräben zwischen den Burgen besorgen, Echsen und dergleichen, für Mißbrauch, Unzucht, Schabernack.
Die brachten sich dann in Käfigen rings um die erotisch ineinanderverschlungenen Aristoi gegenseitig um, unter Geschrei, in das sich das unaufrichtige Gestöhn der beiden Widerlichen mischte, weil das nun einmal deren törichte Vorstellung von Verworfenheit war…
Pfui, diese Aufdringlichkeit, mit der sie nach der Frau fragten, weil die, das ewige Gerücht auf zwei Beinen, laut überall in den beknackten Kreisen geflüsterten Vermutungen, so oft wußte, wie es weiterging: Was an politischen, meteorologischen oder langfristig klimatischen Beränderungen auf dem Mars anstand, wer demnächst sterben würde, wer geboren würde, um ein Held zu sein, was für Kunst in den Burgen die nächsten Sommer dominieren würde — von Seherinnen wie ihr ging in allen Burgen längst die Rede, sie mischten sich in alles mögliche ein; nur Sankt Oswald wußte, daß es immer dieselbe war, nämlich eben die, die er kannte.
Eon und seine Schnatze ließen bei aller Neugier nie auch nur das geringste Anzeichen merken, daß sie seine Behauptung, er sei einer der wenigen, die von einer der Seherinnen (nun ja) Besuche erhielten, für bare Münze nahmen. Aber Löcher fragten sie ihm trotzdem in den Bauch: Wird Prangel noch mehr rote Filme machen, die man kaum erträgt, wird es sehr heiß werden, wann ist das neue Kristallbecken fertig?
«Was soll ich den Herrschaften antworten?«begehrte der Konische zu wissen.
Sankt Oswald ächzte, befangen, zermürbt:»Aaah Dreckpapier. Sag ihnen halt, heut ist es schlecht, ich warte auf… äh, bäh: einen ganz besonderen Gast«, wenn schon widerlich, dann richtig.
Der Konische rumpelte davon und ließ Sankt Oswald mit dem Gedanken zurück: Ich hab den Kopf voll Stroh / und das gehört sich so.
Bevor er Gelegenheit fand, sich gänzlich in Reue aufzulösen, fuhr ihm Klavierkrach aus dem Musikzimmer in die hölzernen Glieder — eine Visitenkarte, nicht mißzuverstehen: Die saumselige Seherin war eingetroffen.
4. W
Wie üblich alterslos — Anfang zwanzig, Mitte dreißig? — , weißhaarig, barbusig — immerhin nicht nackt, wenn auch ohne Schuhwerk, sie trug eine schmutzige Uniformhose, die freie Haut war verschmiert mit Ruß und Asche, glänzte auch, als hätte sie sich in der Nähe eines umluftintensiven Ofens aufgehalten —, wie üblich mit dem silbernen Kettchen um den Hals, an dem, mit kleinsten Diamanten besetzt, ein Schmuckstück hing, ein altes Symbol — das Lautzeichen» W «in einer der alphalinearen Schriften der untergegangenen Menschheit —, so sah Sankt Oswald beim Eintreten ins Musikzimmer seine Wohltäterin am Flügel sitzen, wo sie mit ungeheuer flinken, sensiblen, aber starken und gelenkigen Fingern ihre Witze mit dem älteren Erbe trieb.
Der heutige Mumpitz begann mit einer gehässigen, aber sehr lustigen Parodie der Art und Weise, wie Glenn Gould die Bachschen Goldbergvariationen als junger Mann zu spielen pflegte, setzte sich fort in ein paar Takten Debussy, ging zu Jazz und Gershwin über, dann Fragmenten aus Nocturnes von Chopin, und zum Abschluß, als die ausgestopfte Clownspuppe, der dieser Flügel gehörte, sich räusperte, um Frau Späth darauf aufmerksam zu machen, daß der Hausherr seinen Anspruch aufs Zurkenntnisgenommenwerden anmeldete, fummelte die Komponistin, jetzt merklich lustloser, an ein paar Volksmelodiekleinigkeiten von Witold Lutos|lawksi aus jenem denkwürdigen Jahr herum, als die vorletzte der Hypermachien der Langeweile zu Ende gegangen war.
«Na, alter Krauter, wacklig auf den Knien?«begrüßte sie ihn und stand auf.
Ein Roboter servierte ihr ein Glas gekühlten Tee mit zwei Zitronenscheiben.
«Ich brauche wirklich wieder Holz von Livienda, wenn Sie das meinen.«
«Ah, shit, yeah, tut mir leid. Fuck you, fuck your parole officer. Hab ich vergessen. Hm, nee, also, bring ich noch — das heißt, ich werd's gestern gebracht haben, sonst kommt mein itinerary komplett durcheinander — frag mal deinen Hausmeister, das geht dann… wird dann klargegangen sein.«
Die Puppe faßte sich wie geistesabwesend an den Hals, legte einen empfindlichen Schalter um und flüsterte in eine kopfintegrierte Wechselsprechanlage. Der Apparat bestätigte, daß Frau Späth gestern nacht bereits getan hatte, was hier eben erst als Entschluß gefaßt worden war: Die Scheite und Zweige lagen, in ein schwarzes Samttuch eingeschlagen, auf dem Balkon des zweitobersten Stockwerks von Sankt Oswalds Wohnturm.
«Na schönen Beinschienenbruch und vielen Dank auch«, verbeugte der sich steif,»dann wird das ja ein kurzer Besuch, von wo auch immer her Sie heute zu mir kommen, in diesem… leicht besengten Zustand.«
Die Komponistin kippte den Eistee auf Ex, wischte sich mit dem Handgelenk den Mund, zwinkerte der Puppe zu und sagte:»Pföh, sei mal lieber froh, Kasperle, daß ich dich nicht als meinen Leibwächter auf solche Touren mitnehm. Obwohl's noch eine ganze Weile hin ist, würde dir die Zeit nicht reichen, dich innerlich vorzubereiten auf das, was ich gestern nacht… oder in zweihundert Nächten, wenn wir dein Maß zugrundelegen… erlebt habe, öhm, oder erleben werde… erlebt haben werden werde? Grammatik, du liebe Zeit.«
Wirklich neugierig war er nicht, aber eine Art ausgeleierter Ergebenheit der Frau gegenüber hielt ihn dazu an, artig nachzufragen:»Und was sind das so für Erlebnisse, die Sie… gewesen… sein… was… wird werden…? Sie sehen aus, als wären Sie mitten ins experimentum gestolpert.«
Beim Näherkommen fiel ihm auf, daß er den Schmutz auf ihrer Haut nicht ganz richtig gedeutet hatte: Es handelte sich nicht allein um Ruß oder zerstäubte Ascheflocken, da waren auch Blessuren, blaue Flecken, Schrammen, ein paar Blutergüsse. Sie bemerkte seinen Blick und bleckte die strahlend weißen Zähne:»Ins was? Ins Ex… ach so, na, ihr Marsmännchen und euer verrückter Kleintierzoo. Dabei kann man hier gar nicht entscheiden, ob die Evolution nun… gerichtet ist oder nicht, denn das, was hier passiert, ist doch sowieso alles gerichtet — hat 'nen klaren Zweck: Den Samen, wie man biblisch gesagt hätte, zu bewahren, bis er aufgeht, weil er ja aufgehen muß, denn sonst… Und dieser Zeitpunkt, der des Aufgehens, nicht, merke, mene, und mene, und ähm tekel auch noch, ist natürlich jetzt gekommen, klar. Deshalb bin ich hier, deshalb bin ich dort, deshalb rüttel ich mich, deshalb schüttel ich mich, und deshalb werf ich mein Säcklein dann wohl auch demnächst hinter mich. Ach so, und übermorgen hol ich der Königin ihre zwei beknackten Kinder.«
Er hatte nur ein Wort verstanden, das wiederholte er fragend, beklommen:»Dort? Wo, dort?«
«Da geht's hoch her, im Weißen Tiger — ein Riesenaffe hat die Stadt zerlegt, und ich war da, um die zwei Königskinder zu beschützen, um aufzupassen und gegebenenfalls… einzuspringen, wenn sie sich in Lebensgefahr…«