«Ah ja. Genau. Aufbaustudium — nachdem man dir ja, wie ich mitkriegen konnte, Sexualität und ähm… die Grundbegriffe der… Liebe beigebracht hat«, Feuer dachte an die Zeit mit den Salamandern und verspürte zum ersten Mal etwas wie Heimweh,»sollst du nun wissen, das heißt, erleben, ich meine, hmch, also, ebenfalls durch Holo- und Sensualsimulationen vermittelt, was es mit dem Tempel auf sich hat.«
«Tempel.«
«Dem Isottatempel. Wo wir dich… wo du… was du finden sollst.«
Zagreus kramte seine Ledertasche unter einer stählernen Werkbank hervor und holte einen Holowürfel sowie sieben weitere Kristallstifte heraus.
«Schau dir's nachher an. In Ruhe. Und vielleicht nicht alles auf einmal. Und sei dir, hm, also… sei dir deiner Verantwortung bewußt, daß du… ich meine, die Minderlinge, wenn sie dieses Material in die…«
«Warum jagen sie mich überhaupt, diese Figuren? Weshalb haben sie…?«
Zagreus machte ein Geräusch, als schneuzte er sich; es klang, weil er eine Maschine war, höchst merkwürdig. Dann ließ er drei seiner Augen sich auf ihren Stielen in Zwirbelbewegungen drehen und sagte:»Die einfache Antwort ist, sie sind dumm. Die komplizierte ist, sie haben das Buch nicht verstanden.«
«Das hier?«Feuer drehte es auf dem Arbeitstisch dreimal locker um sich selbst und legte dann die andere Hand drauf.
«Ja. Es steht eine Menge über Evolution drin. Das haben sie in den falschen Hals gekriegt. Sie denken, wenn Nischen besetzt sind, kann… na, sie denken, wenn es dich gibt und du weiter entwickelt bist, als sie entlang einer Achse von…«
«Von Komplexität«, sagte Feuer, der sich daran erinnerte, was Wempes ihm beigebracht hatte.
«Ja. Wenn das besetzt ist, dann können sie da nicht mehr selber hin. Dann ist ihnen die Chance verbaut, sich zu vervollkommnen, und das heißt bei ihnen immer: wie die alten Menschen zu werden. Deshalb haben sie die Gebiete außerhalb der Ebenen auch so lange in Ruhe gelassen — sie glaubten, das seien alles… na, Untermenschen würden sie wohl sagen. Deine Freunde, die Salamander, die Vaschen, die Hischer, die anderen laufenden Nichtfische, die Vögel, das Wild…«
«Sie fürchten mich. Das ist deine Antwort.«
«So ist es.«
3. Altes Lied
Die Stimmen, die Gerüche und die Geschmacksflämmchen auf der Zunge sagten, daß im Körper keine Sünde sei. Er konnte nicht anders als zustimmen, schon weil er nicht annahm, daß überhaupt irgendwo Sünde sei — soweit er überhaupt verstand, was» Sünde «bedeuten sollte.
Marmor kam übern Landweg, Marmor kam übers Wasser, wurde zusammengekauft, und Feuer erlebte, wie er selbst, als ein Tempel, erbaut wurde, hoch und geräumig errichtet, aus schönstem Stein. Ein Kenner erklärte ihm viel vom Schmuck, den man im Gehäuse anbrachte: Schnitzarbeiten, Reliefe, Basreliefe, daneben ein steinerner Grabkasten, von steinernen Elefanten gesäumt, Diana, die Göttin in ihrer Mondbarke, sie hält die Sichel in der Hand und schaut aus bleichen Augen auf steinerne Musikanten, die zu atmen scheinen, steinerne Putten, die im Wasser spielen — denn der neuplatonische Philosoph, der diesem allen hier den tiefsten Seinsgrund zugeflüstert hat, Gemistos Plethon, stammt ja von noch weiter draußen, nicht von der alten Welt, nicht von der einen Welt, nicht von der andern Welt, sondern ganz und gar vom Neptun, Altaforta, und die Initialen Sigismundos und Isottas, einander umschlingend, als Schild eines Cherubs, sind das Denkzeichen für die Herkunft aus dem Ursprung, die unauslöschliche und aber doch der Verwitterung preisgegebene Erinnerung, die Hoffnung auch auf eine Wiederzusammenführung, eine Auferstehung der Liebe und des Fleisches, in dem keine Sünde sein kann, wie insgesamt auch überhaupt nirgendwo sonst, aber Marmor, Stein und Eisen brachen, das Wort dagegen blieb, obwohl zart und vom Wind überblätterbar wie Blumen, wie die Gräser, eine Blume in Saron und eine Lilie im Teppertal. Wie eine Lilie unter den Dornen, so ist meine Freundin unter den Mädchen, wie ein Apfelbaum unter den Wilden Bäumen, so ist mein Freund unter den Jünglingen. Unter seinem Schatten zu sitzen begehre ich, und seine Frucht ist meinem Gaumen süß. Er führt mich in den Weinkeller, und die Liebe ist sein Zeichen über mir. Er erquickt mich mit Traubenkuchen und labt mich mit Äpfeln, denn ich bin krank vor Liebe, und das Geschlecht ist immer wandelbar: Feuer wird zur Figur der Flora in Rimini, dort steht das Urbild des Tempels, der ist heilig, denn er steht nicht zum Verkauf, niemandem, keinmals, nicht einmal der Herr Nirgendwo, mit seinen Mitteln von überall her, kann ihn flüssig machen.
Es raschelt und flüstert in den Blättern, Dame Liviendas Lachen, sie sagt:»Dryade, dein Frieden ist wie Wasser«, aber sie meint kein Verkehrsmittel, keinen Fluß als Straße, sie meint etwas Schnelleres, noch Ungreifbares, anders als alles Vermögen des Fuchses. Und ich bin kurz davor, aus dem Krähennest zu rutschen aber er (sie?) hält mich fest, holt mich zurück:»Nein, Dryade!«Wir wiegen uns im Wind.
Aber es gibt keinen Wind. Wir wiegen uns mit den Sternen. Sie sind nicht weit weg. Sterne, Felsen, kleine Lebewesen. Aber es wird das Blut der kleinen Lebewesen auf den Felsen vergossen, als ein Dienst am Höchsten, und auf den Treppen auch, zum Tempel, und das Blut ist heiß, es zischt, wie hier auf meiner Welt das Wasser zischt, wenn ich es auf die Steine gieße, den heißen Stein, ESEMPIO SACRO ALLA BELLEZZA ETERNA. / Le mura che'l cingean tutto d'intorno, / Mist' eran d'alabastro e di cristallo, / E di fuor tralucean senz' altro velo, / Come per l'aria a noi, le stelle in cielo. Und ich blicke in den Schwingspiegel im Sandelholzzimmer und erkenne den schwarzen Isottatempel, wo junge Vestalinnen mit Habichtsköpfen in langen rautenschattierten Gewändern aus Taubenfedern, die ihre blanken Mädchenhinterteile herzförmig ausgeschnitten zeigen, steile breite Treppen mit dem verdünnten Blut von Lasaras freiwilligen Opfern netzen, das sofort verdampfte, so heiß ist das schwarze Gestein. Alle Stufen, alle Säulen wollen, daß ich horche, Feuer, hörst du? Diminuendo… keine Musik ist ja nicht auf Erden, die unsrer verglichen kann werden…
Musik? Die kannte Feuer nicht, wo war sie, half sie nicht, wo war sie hin? Das Blut das Wasser, this liquid is certainly a / property of the mind / nec accidens est but an element / in the mind's make-up / est agens and functions, aber keine Abstraktion, keine Phantasie. Kein Entwederodermann, keine Sowohlalsauchfrau, ein Bau, ein Wort, ein architektonischer Stil auch, der gar nicht so verschieden ist von dem, was die begehbaren Holos, die Zagreus ihm gegeben hat, Feuer von den Straßenschluchten der Minderlinge gezeigt haben.
Isotta: Die dritte Frau des Helden, der ein Mensch war und den sie doch den» Wolf von Rimini «nannten, die Dame, der zu Ehren er die alte Franziskanerkirche umbauen und neu weihen ließ, römische Bogen draußen und innen die Kunst, Diana mit den Zügen der Liebsten, daneben der Erbauer als die Sonne, auf dem Stein, aus dem der Bogen entspringt, spendet Licht für all die andern Widerspiegelungen Isottas, als Mond, als Merkur, als lebendige Rhetorik, als Tanz, als Zwillinge, als Putten auf den Balustraden.
Sonne heiratet Mond, ein Geheimnis, bekannt seit Eleusis –
«Wach auf, wach auf! Komm raus, verlier dich nicht hier drin. «Die Klaue aus Eisen und Drähten, die Augen an Stielschlangen: Zagreus.
Feuer schüttelte den Kopf, Tränen standen in seinen Augen:»Es ist so… es ist sehr… schwer, da wieder wegzugehen. Aus dem Tempel. Wird es so sein, wenn ich den wirklichen Ort betrete, wenn ich ihn finde? Gehöre ich da hin, bin ich dort zu Hause?«
Die Maschine antwortete nicht.
Aber als Feuer die Augen schloß, um sich die schmerzenden Schläfen zu massieren, sah er in seinem innersten Sinn einen grünen Dachsenkopf, der nickte.