4. Schlechte Stadt
Das einzig Hübsche an der greulichen Anlage des klobigen Ganzen war ein Stein- und Glaslicht, ein Spiel, das davon handelte, wie die Sonne an den Kanten der Bauwerke entlangleckte, um herauszufinden, ob sie schon nach Vergangenheit schmeckten. Von diesem Lichtspiel abgesehen fiel Feuers Inventur gemischt bis übel aus: Es gab öffentliche Plätze mit runden Bildsäulen, auf denen fortlaufend an den Gemeinsinn einer Population appelliert wurde, die dem Mangel ausgesetzt war und anderen Pionierleiden, die man ertragen muß, wenn man» auf menschenfeindlichem Terrain eine trotzige Zwingburg der Neumenschlichkeit «errichtete (so stachelte die Propaganda faden Stolz an).
Es gab öffentliche Verkehrsmittel, vor allem Magnetschwebebahnen, in denen es nach der unglaublichen Idiotie von Geschöpfen roch, die sich ohne jeden bewußten Vorsatz bald hierhin, bald dahin bringen ließen, als Ergebnis einer dumpfen Ergebung in eine von niemandem je auf ihre Triftigkeit untersuchte Arbeitsteilung — sie fuhren zu Luftsäuberungsanlagen und Fabriken, zu großen Agrarkuppeln am Stadtrand, zu Riesenlabors, in denen neue Werkstoffe erfunden und in Nanofakturen produziert wurden, und das alles taten sie nicht etwa aus Neigung, Interesse oder Neugier, sondern weil sie damit zum Ausdruck bringen wollten, daß sie zum auserwählten Stamm der nicht Unterzukriegenden gehörten, zur Krone der Schöpfung, der nicht einmal die irren Experimente der sündigen Gente wider die natürliche Ordnung der Taxa den Garaus hatte machen können.
Jeder Einzeltrottel ein bevollmächtigter Verwirklicher dieser Notgemeinschaft, hurra, rückt nur eng zusammen, der Demiurg hat uns eine Dreckswelt geschenkt, die werden wir uns untertan machen.
Sinnlose Gespräche, alle von einem Zweckoptimismus durchzuckt, aus dem auszuscheren die Unangepaßten wahrscheinlich dem Tod durch Steinigung aussetzte. Es kam Feuer vor, als spräche aus jedem Mund eine zentrale Behörde, die Lob und Preis der schönen neuen Welt verteilte:»Nee, also der ist unmöglich… man muß ja auch Verantwortung übernehmen«,»Die Kinder sollen's mal besser haben«,»Wir müssen alle an einem Strang ziehen, groß und klein«,»Ein paar Verspätungen sind doch gar nichts, wenn nur die Zuwachsrate stimmt«,»Die Nordstadt wird komplett renoviert, das treibt die Preise hoch, aber langfristig haben alle was davon«,»Der Lavers ist befördert worden, siehst du, das zeigt doch, daß es sich auszahlt, wenn man sich Mühe gibt«,»Auch Leute aus den ungünstigsten Verhältnissen können es mit etwas Initiative weit bringen«,»Bald wird es Straßen geben, zwischen dem Weißen Tiger und dem Marder, und dann werden sie an den Straßen Ferienzentren haben, wirst sehen, wir bauen hier, was die auf der Erde nur träumen konnten.«
Wie hielten sie das aus? Hörten sie sich selber eigentlich zu?
Kleine Geister, mit noch kleineren Dingen beschäftigt, ein Geschlecht von Hausbesorgern, Putzen und Kochen in verschiedenen aufgedonnerten Varianten der einzige Lebenszweck, immerfort mit planlosem Wursteln beschäftigt, die Welt ein Hinterhof, kein großer Zug von Freiheit irgendwo, umgeben von gewaltigen Klötzen, die aber nicht der Feier dessen dienten, was Leute wagen und errichten konnten, sondern sie erschlagen sollten, nur noch ärger festlegen auf diese dummgetroste fortwährende Handwerkelei, die sich für Geschichtemachen hielt und keinen Moment die Nase hob, nach oben, in irgendeine Luft, in der sich etwas von Belang hätte erschnuppern lassen.
Alles hier handelte von gar nichts.
Wenn doch einmal die Frage nach Wahrheit aufkam, statt nur nach dem, was man halt so zu reden bestimmt war, dann ging es dabei um eine Art Neuigkeiten, die von folgenlosestem Klatsch nicht zu unterscheiden war — Feuer dachte an Wempes und Zagreus und das, was die unter Lernen und Wissen verstanden, sie hätten das Schreien angefangen:»Hastes gehört? Die Akademie hat einen neuen Kühlungsplan«,»Die Sergergruppe will jetzt eine Verbesserung des Genoms erfinden, die uns den Alten noch näherbringt«,»Der Rat bewilligt wieder Ausgrabungen oben in Atalanta, vielleicht findet man noch weitere Saatschiffe«,»Die Akademie weiß jetzt, wie der Planet in die Umlaufbahn gekommen ist, was das für ein Zusammenstoß war und wieso der Jupiter…«
Geraune von Resultaten also, bei mitternächtlichster Ahnungslosigkeit davon, wie man Dinge herausfindet. Was die Wissenschaftler dieser seltsamen Sozietät taten, wurde zwar auf den Bildsäulen und — flächen gefeiert, mit grauenhaften Graphiken und zappeligen Animationen, die alles vergröberten und zerdummten, bis der gewünschte Gerüchtestoff herauskam. Aber da hätten ebensogut Märchen erzählt werden können, das ganze Wissen hatte keine Konsequenzen. Dem Gestus, der da vorherrschte, entsprach auch die verzerrte und verblödete Darstellung der Sexualität der Minderlinge, die sie sich nicht nur auf lichtbelebten Oberflächen, sondern ebenso als Plakat und auf bedrucktem Material gefallen ließen, in aller Öffentlichkeit.
Es ging dabei hauptsächlich um große Brüste oder breite Schultern, um geistlose Gesichtsausdrücke, feige Werbendes, faul Kokettes, ein Gewürge, das Feuer jede Erinnerung an sein Schwelgen in Pelzen, seinen Rausch im virtuellen Tempel zu verekeln drohte.
Sinnloser noch als die Bildwerfer mit Propagandawissenschaft und Stumpfsex, überflüssiger als selbst die überfüllten Magnetbahnen, war der Straßenverkehr der Minderlinge.
Sie nannten ihre Fahrzeuge Autos, aber es waren einfach Metallkäfige, mit Segeltuch bespannt, im Fahrtwind flatternd, betrieben mittels Pedalen und Ketten, also eigentlich Fahrräder, wie Feuer wußte, dem die Freunde mit Fell genügend Technikgeschichte eingebimst hatten, daß er das unterscheiden konnte.
Die verblendeten Autoinsassen schwitzten, wenn sie die steilen Schrägen raufradelten, Rampen zu den zentralen Ringstraßen. Große Kräne standen an den Kreuzungen, gelb, aus schwerem Eisen, die schwenkten und drehten sich, und daran hingen Lampen, die Durchlaß oder Stockung des Verkehrsflusses bestimmten. Leute nahmen einander die Vorfahrt, fluchten, waren wütend, verzweifelt, erkältet. Feuer wünschte sich zurück in die Kanalisation voll dampfender Fäkalien, durch die er in die Stadt gelangt war (der ursprüngliche Plan, das Herunterlassen am Seil nah den Wällen, hatte sich als unpraktisch erwiesen; die Nacht hier war keine Nacht mehr, spendete keinen Schutz der Dunkelheit, man pflegte seit ein paar Tagen die künstliche Beleuchtung im großen Maßstab), oder auf den Friedhof am Stadtrand, in dessen Brunnen er sich gewaschen hatte, bevor er bereit gewesen war, das Kostüm aus dem Rucksack zu holen und anzulegen.
Niemand hatte ihn kommen sehen, so ging er nun herum, auf der Suche nach Hinweisen, in klammer Kälte. Seine Finger fühlten sich gelähmt an, mit Krallengriff hielt er das Buch fest, an das die Leute hier glaubten. Kaum wagte er den Blick zu den Gebäuden zu erheben, wo ihn die höheren Fenster an die Geschichte der Kundschafter in Jericho erinnerten, die ihm Zagreus erzählt hatte (hängt denn nirgends ein roter Faden, wohnt keine Rahab dort). Das Kinn mußte nah an die Brust gepreßt bleiben, daß ihm der Eishauch nicht den Kragen festfror. Wie konnten sie so leben, wie mochten sie so atmen?
Auch auf die unnatürliche Temperatur waren sie stolz, wie auf all ihren Unsinn, und putzten sich heraus mit Mützen, langen Gewändern, Rüschen an den Ärmeln: Schaut, wie wir unsre Stadt abgekühlt haben, hier ist es wie im Herbst, ja Winter, in den gemäßigten Zonen auf der alten Welt. Der Reichtum an Energie, der für diese absurde Gefriertruhe aufgewandt werden mußte, kam offenbar niemandem im mindesten obszön vor. Was war auch von Kreaturen zu erwarten, deren Sprache so verschleimt gurgelte und röchelte — Feuer hatte vierzig quälende Minuten mit Kristallunterstützung gebraucht, sie vollumfänglich zu erlernen, über eine schmerzhafte Reiz- und Bildprägung, und war entsetzt gewesen, als Zagreus ihm versichert hatte:»Das Schlimmste ist, dein Wortschatz dürfte den der meisten tatsächlichen Einwohner dieses Irrenhauses jetzt sogar noch um ein Vielfaches übersteigen.«