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«Von Helden, ja«, flüsterte die Gliederpuppe. Der leise Ton sollte sagen: Es ist alles lange her, und man hat immer noch daran zu tragen, wenn man's erlebt hat.

«Noch eine Frage.«

«Ja, mein Reißzahn?«

«Der Wolf. Dmitri Stepanowitsch Sebassus. Ich verstehe nicht, daß… ich meine, warum hat er sich breitschlagen lassen, zu dieser Selbstmordmission, zum Mord am Löwen, von Lasara, wo er doch — ich meine, aus herzinnigster Liebe kann das nicht gekommen sein. Und daß sie schwanger war, hat er ja nicht gewußt.«

Sankt Oswald lächelte geheimnisvoll, fast böse:»Und warum kann's aus herzinnigster Liebe nicht gewesen sein?«

«Philomenas vierzehnte Chronik, die, sagen wir… erhärtet wird durch verschiedene Kommentare zu den Gesprächen zwischen der Fledermaus und dem Löwen, besonders die Epsilon- und Tau-Nachschriften, und die Dokumente der Wolfsliederabteilung, das Brittpapier…«

Meiner Treu, dachte die Gliederpuppe, im Bibliographischen macht der Kleinen keiner mehr was vor.

«…da findest du unmißverständlich, daß Lasara nicht, also, dieser untreue Hund da…«

«Wenn ich mir die Sachen durchlese und die Oper von den Fliegenden Katzen anhöre, die Apis Olmy Seeer auf dem Mond geschrieben hat… Es gibt, wenn ich das richtig sehe, Fraktionen der Forschung, die sich völlig sicher sind, daß er vorhatte, nach allem… wenn die Gefahr irgendwann vielleicht… er wollte zu ihr zurückkehren. Nach Princeton. Also, warum hat er sich von der Luchsin zum Königsmord verführen lassen?«

«Was dir fehlt, ist Psychologie. Es gibt mächtige Emotionen wie schlechtes Gewissen, Schuldgefühle, Dankbarkeit, Vertrauen, Hoffnung, Lust, die…«

«Wem gegenüber? Lasara?«

«Vielleicht. Das Herz der Langlebigen ist nicht weniger kompliziert, als das einfacher Sterblicher immer war, du kennst doch deinen Shakespeare. Und die kryptischen Sentenzen, die von der Comtesse überliefert sind, die kennst du auch: ›Ist nicht die Imagination unsere Rettung? Ich habe gebaut und gebaut und gebaut. Ich sammle alles, was damit zusammenhängt.‹ Pietismus, Quietismus…«

«Es klingt, als hätte sie sich langsam eingemauert. Und wäre dann im Gemäuer frömmelnd verblödet, mit dem… Gesammelten. Vielleicht war er nicht bei ihr, weil sie ihn gar nicht wirklich zu sich lassen wollte. Auf Armeslänge… Vielleicht… Imagination… das klingt, als hätte sie nicht gewußt, daß die Gefühle und Gedanken der Fühlenden und Denkenden dem ähm… Kosmos einerseits völlig gleichgültig sind, solange sie lediglich gefühlt und gedacht werden, aber andererseits die größte Macht im All darstellen, wenn man sie lebt… wenn man danach handelt. Wenn man, na du weißt schon, küßt und weint und lacht und was wagt und streitet, statt zu sammeln und zu träumen und sich zu verstecken.«

«Du sprichst«, er lächelte,»von dir und deinem Mut, nicht mehr von Dmitri oder Alexandra. Warum ist er nicht mehr zu ihr, warum behielt sie ihn nicht bei sich; fand er ein zweites, geläutertes Glück bei der Löwentochter? Es gibt, meine Liebe«, Sankt Oswald machte eine ausladende Armbewegung, die sozusagen im Raum zwischen ihnen die virtuellen Speicher der gemeinsamen Synergspintronik andeuten sollte,»über diese Frage Foren und Großforschungsprojekte, Bände und Aberbände — es geht uns hier in den Burgen mit dieser Art Frühgeschichte wie den alten Kung-Fu-Forschern der Langeweile mit der Frage, warum Bodhidarma von Indien nach China oder China nach Indien gegangen ist oder wie oder was das damals war.«

«Bodhiwer?«

«Die Antwort, mein Kind, weiß nicht einmal Frau Späth.«

Die ultima ratio der Auskunftsverweigerung: Darauf schwieg Padmasambhava.

Sankt Oswald aber riet ganz richtig, daß das keineswegs bedeutete, daß sie ihre Neugier in diesem speziellen Punkt aufzugeben bereit war; sie hatte bloß beschlossen, Frau Späth eines Tages persönlich mit dem Problem zu konfrontieren.

4. Bene Gente

Zwei Tage nach Esprit ging im heiligen Mischwald kein Lüftchen.

Lodas führte seine rote Herrin auf den Hügel, wo gestern noch der herbe Wein vergossen worden war, um ihr zu zeigen, was die Reisenden aus den andern Burgen hier am liebsten mochten. Es war frühmorgens, durchsichtig kühl, ein Kußwetterchen, das eben erst heraufzog, ließ die Liebenden wohlig erschauern. Sie legten sich zwischen zwei blühende Judasbäume, auf Grünes, unter Rosaschimmerndes, und fingen an, einander abzulecken wie die trägen Panther auf den Treppenstufen des Tempels von Kapseits, vor so vielen Jahren. Bald setzte das, was aus ihren Poren drang, das alte holographische Programm in Gang, und auf Laubstreu, in Alkoholpfützen, neben ausgebrannten Feuern, am Kreis aus Steinen erschien als hohe kalte Flamme der Löwe und sprach donnernd, warm, voll alter, unsterblicher Macht zu denen, die sich vor ihm liebten, weil dieses lebendige Bild so eingerichtet war, daß man sich lieben mußte, um es abzurufen:»Denkt nur nicht, ferne Nachkommen, daß ihr bei euch sagen könntet: Wir haben Cyrus Golden zum Vater. Denn ich sage euch: Gott vermag dem Cyrus Golden aus diesen Steinen Kinder zu erwecken.«

Lodas hielt die Echse fest, seine rechte Pranke lag auf ihrer rechten Hinterbacke, drückte sie nach rechts, damit er besser hinkam, wo er hinwollte; sie zischte lüstern, damit er ihre Neugier nicht störte.

Es kam ihr vor, als sähe der tote Herrscher ihr direkt ins Gesicht, als er verkündete, was nach der langen diasporischen Zeit übriggeblieben war von der Lehre Bene Gente:»Verflucht sind, die da Inzest fürchten, Klonen meiden, Pläne fliehen, denn ihrer ist die Langeweile. Verflucht sind, die nicht wissen, was sie wollen, denn andere müssen ihre Schulden begleichen. Verflucht sind die Trägen, denn sie werden sich vervielfältigen, ohne je gelebt zu haben. Verflucht sind, die da in die Follikel zurückzukriechen suchen, aus denen sie gekommen sind, denn sie werden der Zukunft die Zinsen wegfressen, noch bevor der Hahn auf der Wehrmauer sich dreimal erbrochen hat. Verflucht sind die Naturschützer, denn sie werden enden wie die Cotylosauria, die sie sich zum Vorbild nehmen. Verflucht sind die Timiden, die Quietisten und Opportunisten, denn sie werden sich in den Tentakeln des Selbstverständlichen verheddern und darin umkommen. Verflucht bin ich aber vor allem selber, denn ich erkläre noch der Nachwelt Sachen, die man nicht erklären, nur erarbeiten kann. Aber die Lähmung verurteilt die Gelähmte, die Lüge wird zum Gefängnis der Lügnerin und das feige Herz stirbt am eigenen Gift.«

Lodas Osier lachte laut, weil ihm die Vorführung, die er nicht verstand, so gut gefiel.

Seine Geliebte lachte nicht; sie wurde nachdenklich.

5. Die Verdammten

Padmasambhava wollte immer wieder wissen, wie Frau Späth war, was sie vorhatte, und am wichtigsten:»Wann kommt sie denn?«»Regulär«, sagte Sankt Oswald, als habe er soeben auf einer Uhr oder in einem Kalender nachgesehen,»rechne ich erst in ein paar Jahrzehnten wieder mit ihr. Aber in mir kribbelt ein Verdacht, daß sie sich diesmal früher blicken läßt.«

«Der Grund dafür…«

«Bist du. Sie wird dich abholen, denke ich, oder dich irgendwohin schicken, wenn deine… Erziehung abgeschlossen ist. «Die Auskunft war stets dieselbe, und immer reichte sie hin, um das erneute Nachhaken ein paar Unterrichtssitzungen weiter hinauszuschieben.

Padmasambhava versuchte, nicht allzu erregt in Erwartung der großen Dinge zu leben, die Frau Späth für sie vorgesehen haben mochte, und suchte sich andere Beschäftigungen.