Soviel stimmte: Sie nahm tatsächlich, jetzt, da sie endgültig zur Erwachsenen gereift war und damit ein Alter erreicht hatte, das den meisten ihrer Schlüpfgenossinnen unerreichbar blieb, solange das experimentum währte, wieder häufiger an den Gelagen und Bacchanalen der Schönen teil, wo es zum guten Ton gehörte, daß man allein erschien und sich für alles, was geschah, unabhängig von sentimentalen Bindungen verfügbar hielt.
«Ja, wenn wir mal gemeinsam hin könnten und auch gemeinsam wieder weg«, jammerte der Gekränkte,»wenn ich noch vorkäme in deinem Leben, dann…«
Sie lachte ihn aus:»Prima, und während alles durcheinanderrammelt, halten wir Händchen, bis wir, was bei dem Lärm natürlich nicht ganz einfach ist, dann beieinander eingeschlafen sind, nein danke, Schatz. «Er schmollte, sah aus dem wirbelnden Fenster, das die Wasserfälle um die Kunsthalle in Burg IV, den Wald von Burg II und andere schöne Aussichten zeigte.
Etwas milder gestimmt sagte sie, als sie die Hand auf seine Schulter legte:»Was stört dich denn nun wirklich, hm?«
«Mich stört«, sagte er, ohne den Blick vom Strudelpanorama zu wenden, das sechsmal so groß war wie sie beide zusammen und wegen der freien Feldaufhängung des breiten Bettes manchmal schräg vor, manchmal schief hinter ihnen schwebte,»daß du so entsetzlich viel Wind machst.«
«Wind?«sagte sie entgeistert.»Die größte Reform, die je…«
«Schon gut! Toll!«Er entwand sich ihr und war jetzt wirklich wütend, schlug die Decke zurück, setzte sich aufrecht hin, drehte sich in ihre Richtung, wenn auch nur im Halbprofil, und schrie an ihr vorbei:»Die größte, das beste, die wichtigste — was denn, warum denn? Du bist eine Heuchlerin. Du willst beides, dich waschen und nicht naß werden. Hast deine Leute da im Graben fallengelassen, bist nie wieder hin — das hättest du können, an den Außenposten, wenigstens den neuen, die auf dein eigenes Betreiben errichtet wurden, um äh, ach, gerechte Handelsbeziehungen zwischen den Burgen und den Gräben zu etablieren — und ekelst dich, vermute ich, wenn ich mir so angucke, wie du zuletzt aus dem Luftschiff runtergeguckt hast, eher noch mehr vor ihnen, als die Aristoi sich vor ihnen ekeln — die Aristoi, zu denen du gehören willst, aber wiederum auch nicht, ohne deinen Exotenbonus… bah…«, ihm ging die Luft aus.
Sie kicherte.»Wer sonst«, sagte sie, fast singend, jedenfalls beschwingt,»soll den Grabenleuten helfen, wenn nicht eine, die nie richtig dazugehört hat? Sie haben das gemerkt, mein Buch des Lebens ist anders als ihrs — und den Aristoi ist es ebenfalls aufgefallen. Der einzige, der mich je auf das festlegen wollte, was ich früher gewesen bin, was ich früher zu sein schien, der einzige, der Wert darauf legt, daß ich eine Exotin bin und nicht in seine Welt gehöre, bist…«, aber da fiel das Fenster um, stürzte an ihnen vorbei, der Kronleuchter klirrte, der Baldachin zitterte: ein Erdbeben, nicht stark, aber sehr plötzlich.
Als es vorbei war, schwiegen Lodas und Padmasambhava einander zunächst verblüfft an.
Dann mußten sie immerhin lachen. Daraus ergab sich ein Gerangel, das erst nur überraschend freundlich war, dann bald inniger wurde, und weil sie einander bereits offenbart hatten, daß sie vermutlich nicht befreundet bleiben würden, fiel der Sex, der sich ergab, dann doch sehr gut aus; erstens als Abschied, zweitens als etwas, das endlich unbelastet war von den Vorbehalten, dem Groll, den Heimlichkeiten der letzten Zeit.
Ein paar Stunden vor der Dämmerung wurden sie von einem neuen, stärkeren Beben geweckt.
Das Haus, das Padmasambhava sich inzwischen leisten konnte, stand auf einer Klippe in der Burgenmauer.
Geschenke, die Sankt Oswald ihr gemacht hatte, darunter uralte Bücher, fielen von den Regalen; Glas zerbrach. Eine lange Pause schloß sich an, in der die eben Erwachten überlegten, was sie einander sagen sollten.
Es fiel ihnen nichts ein.
Ein weiterer Tremor folgte. Das beste schien, rasch aufzustehen und zu gehen. Sie zog sich an. Er fragte:»In den Garten?«Sie lachte leise, nicht mehr freundlich jetzt, und sagte:»Sicher nicht.«
Sie rief ein Taxi, schickte ihn davon.
Blieb sitzen. Weinte ein bißchen.
Man muß stehen, wo man steht, dachte sie, das gilt vor allem für diese Leute hier, die Aristoi. Das Herz des Standpunkts ist: Man kann nicht fliegen.
Ich habe mir diesen Standpunkt zu eigen gemacht, obwohl ich fliegen kann, dann habe ich mein Ziel sogar durchgesetzt, und jetzt? Erzähl mir etwas, Buch, von den Gräben und den Leiden dort, von den Ackerbauversuchen, von der Dürre, auch von den Regengüssen. Erzähl's mir.
Aber sie hatte keinen ordentlichen Kenncode gesandt, mit dieser Aufforderung, und daher schwieg das Buch.
Sie legte sich aufs Bett, rief den Deckenspiegel auf und sah hinein.
Sofort war's da, das Schlimme, das sie seit Wochen ängstigte: Was, wenn der, den sie jetzt fortgeschickt hatte, vermutlich für immer, sie einfach nicht mehr hübsch genug fand? Wenn stimmte, was ihr ein Verdacht nahelegte, dessen Anlaß dort im Spiegel sichtbar war, den sie spüren konnte, wenn sie ihre Hüften betastete und ihre Brust: Sie verlor ihre weiblichen Formen, sie wurde eckiger mit jedem Tag, härter, straffer, wie ausgezehrt, und alle medizinischen Supplemente, alle Diagnostika und Therapeutika, auf die das Buch des Lebens sie hinlenkte, vermochten daran nichts zu ändern. Sicher, Sankt Oswald hatte sie drauf vorbereitet, und die Offenbarung ihres Namens hatte bereits einen entsprechenden Subtext enthalten. Beide rieten ihr, ihr Herz nicht allzu sehr ans Geschlecht zu hängen — ich war Mädchen, wurde Frau, werde Mann und kleiner Junge —, aber jetzt, da diese Prophezeiung physiologische Realität wurde, dämmerte ihr, daß sie das immer als Metapher hatte lesen wollen, als Bild eines Reifeprozesses, an dessen Ende eine zweite, veränderte Unschuld, eine Naivität auf höherer Stufe hätte stehen sollen. Statt dessen sinken bloß meine Brüste in meinen Brustkorb zurück. Ist das gerecht? Ist das erträglich? Kann ich so leben?
Will ich die sein, oder der?
7. Nicht einmal Schatten
«Du wirst nichts Wahnsinniges tun, oder?«
Sankt Oswalds Frage kam ihm selbst ein bißchen widersinnig vor, aber es war zu spät, Direkteres zu formulieren. Das Seifenblasentaxi bewegte sich in mittlerer Rauschgeschwindigkeit auf den Platz um Liviendas Urururenkelbaum zu, wo Padmasambhava ihre Rede würde halten dürfen, aus Anlaß der endgültigen offiziellen Einstellung des experimentum.
Vertreter der Echsen waren da (Sankt Oswald hoffte, daß sie einander nicht in einem unschönen Rückfall an die Gurgel gehen würden), Aristoi aus allen Burgen, Spinnen, Herzhunde, sogar Cyborgs von den Polkappen. Padmasambhava stierte rotäugig vor sich hin; sie trug schwer an Absichten, die ihr alter Hausgenosse vergeblich zu erraten suchte.
Noch einmal setzte er an, legte seinen Arm auf ihren und wisperte ihr ins Ohr:»Warum kannst du dich nicht mit dem Erreichten zufriedengeben? Gib ihnen eine schöne Sonntagspredigt, verdüstere dir selber deinen großen Tag nicht, wozu denn? Sprich über die neue Kultur, die neuen Bündnispartner der Burgen, die marsianische Morgenröte, spiel deine verführerische Musik. Welchen Schaden soll das anrichten? Wenn du jetzt einen unerwarteten Haken schlägst und dich in die nächste Kampagne wirfst, werden sie dir Undankbarkeit… und vielleicht Größenwahn…«
«Ich kann's nicht mehr gefährden, oder?«zischte sie zurück.»Das Ding ist eingestellt. Ich habe meinen Willen. Ich muß niemanden fürchten, mir wird nichts weggenommen.«
«Doch. Die Anerkennung für das, was du geleistet hast — wenn du sie verspielst. «Sie schnaubte und bedeutete der Seifenblase, schneller durchs Rohr zu rutschen.