Als Padmasambhava den Baum, den sie bislang nur als spintronisches Bild oder Hologramm kannte, das erste Mal leibhaftig vor sich sah — aus irgendeinem ihr selbst nicht durchsichtigen Grund war sie während all der langen Zeit nie dazu gekommen, diesen Platz persönlich aufzusuchen, obwohl sie nicht selten in der Burg gewesen war —, wäre sie beinahe doch noch von ihrem Vorhaben abgerückt.
Das Dach der Zweige und Äste, in dem Sonnenstrahlen das Blattwerk bewegten wie Finger, die in ein Weidengeflecht greifen, schien ihr ein so reiches Diagramm von Alternativen des Wachstums, eine Vision dessen, was möglich war, vieler Welten, vieler Wohnungen, daß sie einen Moment lang daran zweifelte, ob ihre Vorstellung vom richtigen Weg, vom Wachrütteln der Blinden, von ihrer Rolle als Beleberin einer statischen, stagnierenden Zivilisation wirklich richtig, wirklich wichtig war. Rattenfängerin, hatte der alte Freund gesagt.
Sollten nicht alle leben, denken, wirken, wie sie wollten, wie die Vöglein zwischen den Blättern, nicht säen, nicht ernten, und der himmlische Verratichnicht ernährt sie doch?
«Du bist dran«, sagte Raphaela und wies ihr den Weg zum Lesepult.
Padmasambhava trat ins Licht wie unter eine Dusche, räusperte sich damenhaft und begann ihre Rede mit den erwartbaren Grußformeln, Dankesphrasen, dem Erzählen des Wegs bis hierher.
Dann schwieg sie einen Augenblick — man fand das charmant, viele dachten, sie werde gleich zu großer Form auflaufen, und erinnerten sich an die perfekt getakteten Hebungen und Senkungen ihrer großen Kampagnenzeit. Sie sah nach oben, ins Blättergeflatter, nach vorn, ins Gesicht ihres ehemaligen Hausgenossen, der ihr bester und vielleicht einziger Freund war, und begann, leise und gefaßt, von etwas zu reden, wovon niemand in den Burgen reden wollte:»Wir haben Grund zur Freude, das stimmt, wegen der Leute in den Gräben«, ein kurzer Blick in deren Richtung — nein, sie gehörte nicht zu ihnen, und die sahen auch nicht so aus, als legten sie Wert darauf —,»wegen der Aristoi, der Herzhunde, der Nashornkühe. Aber ich sehe keine Gente hier, und keine Menschen, und keine Keramikaner, nicht einmal deren Schatten. Natürlich kann man sagen: Wir interessieren uns fürs Hier und Jetzt, für die Energiebilanz, für die neuen Landwirtschaften, für die soziale Rekonfiguration, auf unserem schönen Mars, oder Ares, oder wie immer wir das Ding nennen wollen. Aber weshalb interessieren wir uns dafür? Weil wir unser Geschick selbst bestimmen möchten. Weil wir wissen, daß es eine Zukunft gibt. Daran habe ich mich beteiligt, seit ich hier so freundliche Aufnahme gefunden habe, daran sind Freundschaften gewachsen, andere zerbrochen, das war meine Arbeit. Mir war aufgefallen — aus biographischen Gründen, wie jeder hier weiß —, daß es Angelegenheiten gibt, die für die Burgen von existentiellem Interesse sind und über die dennoch niemand spricht. Solche Angelegenheiten gibt es immer noch. Denn was ist mit der Erde? Ist sie Vergangenheit? Geht uns das nichts mehr an? Auch zu dieser unerwünschten Frage drängt mich meine Biographie: Ich bin auf diese Welt — Mars, Ares — gekommen, weil die genetische und die spintronisch in mich geschriebene Information — ich nenne letztere das Buch des Lebens, weil viele bei den Echsen ihre Spintroniken traditionell als Bücher sehen, aber das ist natürlich nur eine Metapher — im Genpool der Echsen zu einem Zeitpunkt aktiviert wurde, als… nun, ich wurde geboren, oder genauer: Was mich ausmacht, wurde in einem befruchteten Reptilienei erweckt, weil sich etwas auf der Erde verändert hatte. Es gibt mich also nur, weil die Erde nicht Geschichte ist, sondern Gegenwart. Nachrichten, die von dort ausgehen, verändern damit die hiesigen Dinge. Ohne mich, so hat man in den letzten Tagen in den Burgen und den Gräben oft gehört, wäre das experimentum crucis vielleicht noch lange fortgesetzt worden. Ohne mich, das heißt auch: ohne die Nachrichten von der Erde. Und trotzdem beschäftigen sich mit diesen Nachrichten, und den Folgen, die sie für uns haben können, keine Aristoi, keine Herzhunde, keine Echsen, die hier heute zusammengekommen sind — nur Roboter, Automatiken, Satelliten, Relikte der Vergangenheit, nur die späten, sprachlosen, nicht denkenden Vollstrecker der Testamente meiner Eltern, die, von den Nachrichten alarmiert, aus den Orbitalstationen auf den Mars heruntergekommen sind, um meine Geburt zu verursachen. Man hat gefragt, woher ich das Selbstbewußtsein genommen habe, den Weg zu gehen, den ich gegangen bin, den Konsens herauszufordern, das experimentum anzugreifen. Der Grund dafür ist, daß ich immer geglaubt habe — weil man mich dies gelehrt hat —, daß von mir viel abhängt, daß ich die Dinge klären muß. Das Drollige ist: Genau daran bin ich durch meinen Erfolg in der Sache, um die es hier heute geht, irre geworden. Diese ganze Messiasidee — schaut in euren Spintroniken nach, wenn ihr das Wort nicht kennt — war vielleicht der Auslöser, aber geschafft habe ich es nicht allein, geschafft hätte ich es alleine niemals. Sankt Oswald, und Eon, und Raphaela, und Lodas, und Parigi, Hjemer, Hillary, Biegar, all die Aristoi und Nichtaristoi, die sich an der Kampagne beteiligt, mit mir gestritten, dadurch meine Position geschärft oder der Sache auf irgendeine andere Art gedient haben — versteht ihr? Ich glaube nicht länger, daß es meine Aufgabe ist, irgendeinen Durchmarsch… ich glaube jetzt an etwas Gesünderes: Ich bin bloß eine Katalysatorin, eine Person, die etwas erleichtert, das dem Wissensstand meiner… Gesellschaft schon… implizit ist. Und in genau diesem Sinne will ich weitermachen, indem ich den formellen und informellen Gremien der Burgen heute eine neue Streitfrage vorlege, damit darüber geredet wird, und etwas entschieden, und dann gehandelt: Was tun wir der Erde wegen? Schicken wir weitere Sonden, schicken wir Radiowellen mit Botschaften, schicken wir eine Delegation? Rüsten wir uns, kümmern wir uns um unsere Verteidigung, nehmen wir Kontakt mit der Venus auf, den anderen… Taxa, die von den Gente abgezweigt sind?«
Mit Unruhe hatte sie gerechnet, darauf war sie gefaßt gewesen, dagegen hatte sie sich gestählt.
Aber was sie in den Gesichtern des Publikums sah, als sie sich zwang, genau hinzuschauen, war schlimmer: ein träges Unverständnis, eine faule Art Irritation — nicht einmal die Abweichung vom vorgesehenen Redestil wurde wirklich registriert, man fand wohl nur, sie spreche zu lang und dazu noch von Dingen, die allenfalls von esoterischem Interesse waren. Am schwersten traf sie Sankt Oswalds Miene, der sie sich zuwandte, um sich dran aufzurichten: Was sie da sah, war weder Sorge noch Zorn noch sonst eine vertraute Regung, die wiederzuerkennen ihr Halt geboten hätte, sondern nichts als Mitleid.
Die Veranstaltung, die ihren Sieg hätte feiern sollen, war auf eine schwer greifbare Weise Schauplatz ihrer Niederlage geworden — schon konnte sie sich die Meinungen vorstellen, die gerade in den Köpfen der Zuschauerinnen und Zuschauer Gestalt annahmen: Sie ist immer noch nicht zufrieden, wir haben das experimentum gekappt, was will sie noch? Mit Worten, denen sie selbst kaum noch zuhörte, brachte sie, vom Sonnenlicht erleuchtet, als wäre sie ein glühender Brennstab, die Rede zu Ende:»Alles, was ich sage, ist: Die Information steht im Raum. Die Erde schweigt, das ist eine Mitteilung. Keine elektromagnetische Strahlung mehr, keine Radiowellen, keine thermischen Fluktuationen, die auf Industrie hindeuten. Sie ist verstummt. Sie wirkt von außen, wie vor tausend Jahren Mars und Venus wirkten. Wir werden uns dazu verhalten müssen. Ich danke euch.«
Spärlicher, höflicher, also gehässiger Applaus.
Ein rascher Abgang, eine schweigsame Fahrt zurück ins Hotel, eine rührend hilflose Geste des einzigen Freundes — er gab ihr die Hand und drückte sie, bevor er auf sein Zimmer ging —, eine heiße Dusche, ein Seufzer, und dann geschah, als Padmasambhava sich gerade hingelegt hatte und nur noch schlafen wollte, lange, ewig schlafen, etwas, das ihr seit dem Verlassen der Gräben nicht mehr widerfahren war: Das Buch des Lebens meldete sich, ohne aufgerufen worden zu sein.