Andrea schüttelte den Kopf.
»Es war nicht so, wie ihr denkt«, sagte sie. »Ich sollte kein genaues Datum eingeben oder eine GPS-Adresse oder so etwas. Der Mann hat mir nur einen Code gegeben. Eine Zahlenfolge.«
Und daraufbist du reingefallen?, wollte Jonas fragen. Aber wie konnte er das? Ihre Eltern waren tot.
»Die Sache ist die«, fuhr Andrea fort, »ich habe mir die größte Mühe gegeben, den Code auswendig zu lernen. Ich habe so lange geübt, bis ich ihn vorwärts und rückwärts konnte, und ich weiß, dass ich ihn genau so eingetippt habe, wie der Mann es mir gesagt hat. Ich habe ihn dreimal überprüft, ehe ich auf ENTER gedrückt habe. Ich wollte doch unbedingt meine .«
Wieder ein Satz, den sie nicht beenden konnte. Sie saß einfach nur da und rührte sich nicht. Sie weinte nicht mehr, doch die Tränen glänzten noch nass auf ihren Wangen. In ihren Haaren hatten sich ein paar Schlingpflanzen verfangen.
»Ist schon gut«, sagte Katherine sanft und tätschelte ihr die Schulter. »Das verstehen wir.«
Andrea scheute vor ihr zurück.
»Aber ich habe euch beide mit hineingezogen«, sagte sie.
»Eigentlich nicht«, sagte Jonas und versuchte dabei einen scherzhaften Ton anzuschlagen. »Das haben HK und sein Zeitanalyst besorgt.« Es klappte nicht ganz, deshalb probierte er es noch einmal. »Aber keine Sorge, wir haben nicht damit gerechnet, dass es Spaß machen würde, dich vor Virginia Dares Schicksal zu retten. Wer weiß? Womöglich kommt ein richtiges Abenteuer dabei heraus.«
Stirnrunzelnd sahen ihn die beiden Mädchen an.
»Aber wo sind wir?«, fragte Andrea. »Und in welcher Zeit? Wir wissen überhaupt nichts.«
»Doch, das tun wir«, sagte Katherine langsam und bedächtig. »Wir wissen, dass du den Code genau so eingetippt hast, wie es der Mann wollte. Also sind wir genau dort gelandet, wo er uns landen lassen wollte.«
Alle drei blickten zum Wald zurück, aus dem sie gekommen waren. Die Bäume standen so still, dass es fast unheimlich war. Jonas betrachtete die Ruinen um sich herum: eingestürzt, zusammengebrochen, verlassen. Trostlos.
Aber auch ruhig, sagte er zu sich. Friedlich.
Der Ort, an dem sie im fünfzehnten Jahrhundert gelandet waren, hatte zunächst auch ruhig und friedlich gewirkt. Bis die Mörder aufgetaucht waren.
Ob wir vielleicht einem Mörder begegnet wären, der nach Virginia Dare sucht, wenn wir dort angekommen wären, wo HK uns hinschicken wollte?, überlegte Jonas. Oder ist es wahrscheinlicher, dass wir hier einem Mörder begegnen? Ist es das, was der mysteriöse Unbekannte will?
»Ich wette, Gary und Hodge stecken hinter der ganzen Sache«, vermutete Katherine und sprach die Namen so aus, als würden sie bei ihr einen schlechten Geschmack im Mund hinterlassen. »Sie sind irgendwie aus dem Gefängnis entkommen oder haben jemanden bestochen oder -«
»Gary und Hodge hätten uns in die Zukunft geschickt«, wandte Jonas ein. »Wir wissen, dass das hier die Vergangenheit ist.«
»Wissen wir das wirklich?«, fragte Andrea wehmütig. »Ganz sicher?«
Sie tat Jonas leid. Inzwischen war ihr alles suspekt. Sie sah so traurig aus. Und trotzdem ... selbst mit den tränennassen Wangen, den Blättern im Haar und dem verlorenen Ausdruck im Gesicht sah sie immer noch besser aus, als Jonas sich fühlte. Auf jeden Fall gesünder.
Das war's. Wieder ein Hinweis.
»Andrea?«, fragte er. »Die Zeitkrankheit hat dir nicht sehr zu schaffen gemacht, seit wir hier angekommen sind, nicht? So wie du aufgesprungen bist und sofort davonlaufen konntest?«
Andrea dachte darüber nach.
»Ja, du hast recht«, sagte sie. »Ich habe nicht richtig zugehört, als du es das erste Mal erwähnt hast, aber . ich glaube nicht, dass ich überhaupt zeitkrank war.«
»Und wie fühlst du dich im Augenblick?«, fragte Jonas und beeilte sich das zu erklären. »Ich meine damit nicht, ob du glücklich oder traurig bist, ängstlich oder nicht, sondern wie sich beispielsweise deine Lungen anfühlen. Oder deine Muskeln.«
Forschend holte Andrea Luft. Sie spannte die Arme an, reckte sich und berührte ihre Zehen. Sie wirkte sehr konzentriert.
»Sie fühlen sich . gut an«, sagte sie und klang überrascht. »Vielleicht besser als je zuvor. Es fühlt sich alles richtig an. Als wir gelandet sind, dachte ich, das Gefühl käme daher, dass ich gleich meine Eltern wiedersehe. Aber jetzt . jetzt ist es, als ob mein Körper immer noch findet, dass alles so ist, wie es sein soll.«
Jonas sah seine Schwester an.
»Chip und Alex haben sich im Jahr 1483 auch >rich-tig< gefühlt«, sagte er.
Katherine nickte.
»Du meinst die Freunde, denen ihr beim letzten Mal geholfen habt?«, fragte Andrea. »Sie haben sich auch so gefühlt?«
»HK sagt, dass sich die Leute in ihrem richtigen Zeitalter immer so fühlen«, erklärte Katherine. »Und das leuchtet mir ein. Ich habe mich im fünfzehnten Jahrhundert die ganze Zeit über unwohl gefühlt. Und seit wir hier angekommen sind, geht es mir auch nicht besonders. Es ist einfach nicht mein Zeitalter.«
»Aber meins«, flüsterte Andrea verblüfft. Sie wandte sich ab und fuhr über die eingravierten Buchstaben auf dem umgefallenen Zaunpfahl, der vor ihr lag. »Das hier ist die Kolonie von Roanoke, einige Zeit bevor sie zu Staub zerfällt, irgendwann nach meiner Geburt, aber noch vor ... meinem Tod.«
Es gefiel Jonas nicht, wie diese beiden Worte in der Luft hingen.
»Wir werden nicht zulassen, dass du stirbst«, sagte er. Auch wenn es ihn große Mühe kostete, schaffte er es, aufzustehen. Mit den Augen suchte er den Wald in alle Himmelsrichtungen ab, als wäre er Andreas Leibwächter, der pausenlos auf sie aufpasste. »Wir hätten dich nicht sterben lassen, wenn wir dort gelandet wären, wo HK uns hinschicken wollte, und das werden wir auch hier nicht tun. Wir finden raus, warum uns der Mann hierhin geschickt hat, tun, was nötig ist, um die Dinge ins Lot zu bringen, und dann kehren wir nach Hause zurück. Wir alle zusammen. Und zwar wohlbehalten.«
Jonas hätte nicht behaupten können, dass Andrea nach dieser leidenschaftlichen Rede sonderlich beruhigt aussah (dass seine Stimme sich mittendrin überschlagen hatte, war nicht gerade hilfreich gewesen).
Doch zumindest sprach sie nicht weiter vom Sterben.
»Und wie sollen wir das alles anstellen?«, fragte sie.
So weit hatte Jonas noch nicht gedacht.
»Äh ...«, sagte er.
Katherine stemmte sich hoch und stellte sich neben Jonas.
»Wir fangen damit an, dass wir den Markern folgen«, sagte sie und deutete auf den Wald, auch wenn es eine Weile her war, seit die beiden geisterhaften Jungen ihr Reh festgebunden hatten und zwischen den Bäumen verschwunden waren.
»Also gut, wenn du meinst. Aber warum?«, fragte Andrea.
»Weil es sie nicht gäbe, wenn keine Zeitreisenden die Finger im Spiel hätten«, sagte Katherine. »Und bei uns hat definitiv einer die Finger im Spiel. Findet ihr nicht, dass wir einiges gemeinsam haben?«
Zehn
Sie betraten den Wald auf der anderen Seite der Lichtung. Diesmal liefen Andrea und der Hund nicht voraus, sondern blieben neben Jonas und Katherine. Alle, auch der Hund, sahen sich beständig um und setzten vorsichtig einen Fuß vor den anderen, als könnte hinter jedem Baum eine unbekannte Gefahr lauern.
»Jeder, der durch die Zeit reist, kann einen Marker hervorrufen, nicht?«, fragte Andrea mit gedämpfter Stimme, als sie ein kurzes Stück gegangen waren. »Man muss einfach nur jemanden von seinem normalen Pfad abbringen?«
»Genau«, sagte Jonas. Er war damit beschäftigt herauszufinden, welchen Weg die Markerjungen eingeschlagen hatten. Waren die beiden hinter diesem Baum verschwunden oder hinter jenem?