»Aber können wir die Marker dann nicht selbst verursacht haben?«, fragte Andrea. »Vielleicht haben die echten Jungen zugesehen, wie wir vom Himmel fielen. Dann haben sie es mit der Angst zu tun bekommen und sind weggerannt? Das hätte doch zu Markern geführt, oder nicht?«
»Äh. Sie hat recht«, sagte Katherine und ließ sich gegen einen Baum fallen.
»Dann verhalten wir uns vielleicht wie ein Hund, der seinem eigenen Schwanz hinterherjagt, wenn wir die Marker verfolgen«, mutmaßte Andrea.
Jonas hörte nicht richtig zu. Er beobachtete den Baum, an dem Katherine lehnte. Dieser schwankte ein wenig und sandte ein flüchtiges Markerleuchten aus, ehe er wieder normal wurde. Massen von Kiefernnadeln regneten herab, zusammen mit einigen abgebrochenen Zweigen. Die geisterhaften Markerversionen der Nadeln und Zweige hingegen blieben am Baum hängen.
Jonas drehte sich um. Sie hatten einen ganzen Pfad von Markerschäden hinter sich zurückgelassen: herabgefallene Zweige, beiseitegebogene Äste, verstreute Nadeln . Sie waren schwer zu erkennen, wenn man nicht danach Ausschau hielt, dennoch konnte Jonas genau sehen, welchen Weg er, Katherine und Andrea genommen hatten. Sie waren zunächst ein wenig nach rechts abgedriftet, um einen umgefallenen Baumstamm zu umlaufen, dann nach links, um einer Wolke Stechmücken auszuweichen, von denen sie ein paar erschlagen hatten, sodass winzige Markerpunkte zurückgeblieben waren.
Hätten die Markerjungen doch auch so eine Spur hinterlassen, dachte Jonas. Dann wurde ihm klar, dass eben das der Fall sein musste. Nicht weil die Marker Zeitreisende waren, sondern weil Störungen der Zeit einen Welleneffekt auslösten. Da die Markerjungen nicht wirk-lich da waren, würde alles, was sie aus diesem Grund nicht taten, wiederum Marker hervorrufen. Es war nicht nur das Reh, das sie hätten töten sollen, sondern auch die Mücken, die sie ansonsten totgeschlagen, Blätter, die sie zertreten, und Äste, die sie auf ihrem Weg durch den Wald beiseitegeschoben hätten. Daher gab es von allem, dem Reh, den Stechmücken, den Blättern und den Ästen, nun ebenfalls Marker - genau wie von all jenen Dingen, auf die das Reh, die Stechmücken und die Äste eingewirkt hätten.
Und alles, was von diesen Dingen lebendig war, würde leuchten.
Jonas kniff die Augen zusammen und sah sich um. Da! Eine Kolonne Ameisen auf dem Boden. Da! Ein Vogel hoch oben auf einem Baum, und da, eine beiseitegebogene Ranke. Da und dort und überall glühten Dutzende von Lichtern, die Jonas bislang für das Funkeln der Sonnenstrahlen gehalten hatte, die durch die Bäume fielen, oder für Störungen seines Sichtfeldes, die er der Zeitkrankheit zugeschrieben hatte.
Der Wald war voller Marker.
»Wir haben die Markerjungen nicht geschaffen«, flüsterte er. »Und falls doch, waren vorher schon andere Marker da.«
»Und woher willst du das wissen?«, fragte Katherine spöttisch.
»Daher«, sagte Jonas und deutete auf eine leuchtende Ranke. »Und daher.« Die Ameisenkolonne. »Und daher.« Der Vogel auf dem Baum.
Katherine schnappte nach Luft und schlug sich die Hand vor den Mund, als hätte sie gerade entdeckt, dass der ganze Wald radioaktiv verseucht war.
»Sie sind ja ... überall«, flüsterte Andrea.
»Genau«, sagte Jonas. »Und was schätzt ihr, wie lange sie schon hier sind? Eine halbe Stunde? Eine Stunde? Wir können in so kurzer Zeit unmöglich so viele Marker verursacht haben.«
Bestürzt und mit großen Augen sah Katherine sich weiter um.
»Hier ist irgendwas ganz und gar nicht in Ordnung«, flüsterte sie. »So viel ist klar.«
Während sie dastanden und sich umschauten, landete ein echter Vogel direkt auf dem leuchtenden Markervogel und wurde vollständig eins mit ihm. Das Leuchten verschwand. Nun war es nur noch ein ganz normaler Vogel auf einem ganz normalen Ast.
»Na also«, sagte Jonas. »Zumindest ein kleines bisschen Zeit, das repariert wurde.«
Er wollte nicht zugeben, wie erleichtert er war oder wie sehr er sich wünschte, auch die anderen Marker ringsum würden allesamt wieder normal werden.
»HK hat mir erzählt, dass Menschen - und vermutlich auch Tiere - Marker nicht sehen können, es sei denn, sie befinden sich auf einer Zeitreise«, sagte Andrea. »Wie konnte der Vogel wissen, wo sein eigener Marker sitzt? Woher wusste er so genau, wo er landen muss?«
»Chip und Alex haben erzählt, dass sie sich von ihren Markern fast magnetisch angezogen fühlten«, erwiderte Katherine. »Dem Vogel muss es genauso gegangen sein.«
»Und warum verschwinden dann die anderen Marker nicht?«, hakte Andrea nach. »Warum gehen nicht nacheinander die Lichter aus und alles wird wieder normal?«
Jonas merkte, dass er sich mit angehaltenem Atem umsah. Die Lichter gingen nicht aus. Es wurden höchstens mehr: Neue, nadelfeine Lichtpünktchen entstanden dort, wo eigentlich Insekten fliegen, Samen niederfallen oder Eichhörnchen entlanghuschen sollten.
»Irgendwas hält diese Marker an ihrem Platz«, wisperte Katherine. »Es lässt die Zeit nicht an ihren Platz zurück, so wie es eigentlich sein sollte.«
»Ist das . ist das meine Schuld?«, fragte Andrea stockend. »Hab ich alles ruiniert, weil ich nicht zur richtigen Zeit an den richtigen Ort zurückgekehrt bin, wie HK es für mich vorgesehen hatte? Ist das passiert, weil ich die Variablen durcheinandergebracht habe, die die Zeitanalysten so sorgfältig zusammengestellt haben?« Sie schniefte und deutete mit einer Handbewegung auf die leuchtenden Überreste der Markeräste, -ranken, -insekten und -ameisen. Ihre Hand zitterte. »Heißt das, ich habe die Zeit für immer zerstört?«
Jonas und Katherine sahen sich an. Jonas beschloss, lieber nicht zu sagen: Hättest du dir das nicht früher überlegen können? Bevor du den Code im Definator verändert hast? Doch etwas anderes fiel ihm auch nicht ein.
»Nimm's mir nicht übel, Andrea, aber warum solltest du so wichtig sein?«, fragte Katherine und klang dabei freundlicher, als ihre Worte vermuten ließen. »Du warst nicht königlicher Abstammung wie Chip und Alex. Du warst einfach nur das erste englische Kind, das in Nordamerika geboren wurde, und bist verschwunden. Das ist alles, was man über dich weiß.«
»Wusste«, verbesserte sie Jonas unwillkürlich. »Das ist alles, was man in unserer Zeit über Virginia Dare wusste.«
Katherine sah ihn wütend an.
Ja, stimmt, dachte Jonas. Das hilft ihr sicher auch nicht weiter. Aber ihm ging ein neuer Gedanke durch den Kopf, etwas, an das er bislang noch nicht gedacht hatte.
Und es erschien ihm wichtig.
»Niemand wusste, was mit Virginia Dare passiert ist, weil niemand aufgeschrieben hat, wie der Rest ihres Lebens verlaufen ist«, sagte er. »Zumindest nicht, soweit wir wissen. Doch seit es die Zeitreisen gibt, hätten Zeitreisende über alles, was sie je getan hat, Bescheid wissen können. Über jede einzelne Sekunde ihres Lebens.«
Jetzt wurde Andrea sogar rot.
»Ich wette, du hast irgendetwas Großartiges vollbracht«, sagte Jonas. »Wahrscheinlich war es deshalb so wichtig, dass du an deinen Platz in der Geschichte zurückkehrst.«
Katherine hatte inzwischen eine Miene aufgesetzt, mit der sie töten konnte.
»Und . wir sorgen dafür, dass du das ausführen kannst. Was es auch ist«, endete Jonas lahm. »Egal wann. Wir bringen dich in die richtige Zeit. Das verspreche ich dir.«
Andrea schniefte. Sie wirkte mutloser denn je, kreuzte die Arme vor der Brust und umklammerte die Ärmel ihres T-Shirts, als müsste sie sich dringend an etwas festhalten.
»Vielleicht sollten wir weitergehen«, schlug Katherine vor.
Die Augen auf die größte Ansammlung von Markerlichtern gerichtet, drehte Jonas sich um. Doch Andrea, die neben ihm stand, wandte sich wider Erwarten nicht gleichzeitig um, sodass er gegen sie stieß.
»Tut mir leid«, murmelte er.
Immer noch ihre Ärmel umklammernd, starrte Andrea ihn an.
Ich habe mich doch entschuldigt, dachte Jonas. Worauf wartet sie denn noch?