Doch diesmal schrie Andrea nicht. Sie legte nur den Kopf schief und dachte über Katherines Fragen nach.
Vielleicht kannte sich Jonas mit Mädchen und ihren Stimmungen einfach zu wenig aus.
»Ich glaube nicht, dass ich irgendetwas gewusst habe«, sagte Andrea kurz darauf. »Nicht mal unterbewusst. Ich fand einfach die Geschichte interessant. Wahrscheinlich lag es am Großvater, der zurückgekommen ist; daran, wie sehr er versucht hat, wieder zu seiner Familie zu kommen, und wie oft er damit gescheitert ist. Und als er es schließlich bis nach Roanoke geschafft hat .«
»War niemand mehr da«, wisperte Katherine.
Da er seit fast zwölf Jahren mit ihr zusammenlebte, hätte Jonas gegen Katherines Theatralik eigentlich gefeit sein müssen. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass ihn der unheimliche Ton in ihrer Stimme schaudern machte. In weiter Ferne schien Dares Gebell jetzt einen klagenden, verzweifelten Tonfall anzunehmen.
»Das hört sich nicht an, als würde er immer noch das Reh anbellen«, stellte er fest.
»Nein. Glaubst du, er ist verletzt?«, fragte Andrea zurück. »Oder in eine Grube gefallen, die ein Jäger zurückgelassen hat, oder, o Gott, sie werden doch auf Roanoke keine Fallen aufgestellt haben?«
Sie wirbelte herum und rannte in Richtung des Gebells. Jonas und Katherine folgten ihr.
Sie liefen jetzt nicht mehr auf den Wald zu, sondern kamen in ein Gebiet mit hohem Gras, das ihnen ins Gesicht schlug und in die Arme schnitt. Jonas wünschte, er hätte trotz der Hitze sein Sweatshirt angelassen, einfach um seine Haut zu schützen. Doch er hatte keine Zeit, stehen zu bleiben und es sich wieder anzuziehen.
Dares Gebell veränderte sich; es wurde schriller, ängstlicher.
»Da stimmt was nicht!«, rief Andrea Jonas und Katherine zu. »Das höre ich. Wir müssen ...«
Sie sprach nicht weiter, sondern lief einfach schneller.
»Warte, Andrea! Du weißt doch gar nicht, was dort draußen ist!«, rief Jonas ihr nach. Er hatte keine Ahnung, welche Gefahren es überhaupt zu befürchten galt. Den mysteriösen Unbekannten, der ihnen Andrea gänzlich wegschnappen könnte? Den Feind, der die Kolonie von Roanoke und das Indianerdorf zerstört hatte? Irgendeine andere Gefahr, in die der Unbekannte Andrea schicken wollte? Piraten, Banditen? Diebe, Mörder ...
Sich die Gefahren aufzulisten spornte Jonas an. Doch je schneller er lief, desto schneller peitschte ihm auch das Gras ins Gesicht, gegen die nackten Arme und die Fußknöchel. Er war froh, als es endlich spärlicher wurde, auch wenn er nun durch Sand rennen musste, der ihm in die Schuhe drang und jeden Schritt doppelt mühsam machte.
Dann bog er um eine Biegung und stellte fest, dass Andrea Dare eingeholt hatte.
Der Hund saß nicht in einem Fangeisen fest. Er wurde auch nicht von bösen Zeitreisenden oder Piraten verschleppt. Stattdessen kauerte er an einem schmalen Strandstreifen und bellte wütend etwas an, das draußen auf dem Wasser trieb.
»Was ist los, mein Junge?«, fragte ihn Andrea. »Was siehst du da?«
Noch im Laufen schirmte Jonas die Augen mit der Hand gegen das grelle Sonnenlicht ab, um in die Brandung hinauszuschauen. Der Wellengang war so heftig, dass es fast unmöglich war, im nächsten Augenblick noch zu wissen, welchen Teil des Wassers er bereits abgesucht hatte und welchen noch nicht. Ein dunkler Umriss tanzte draußen auf den Wellen - oder war es nur ein Schatten?
Jonas kniff die Augen zusammen und rannte zum Ufer. Allmählich begann sich der dunkle Umriss abzuzeichnen.
»Es ist ein umgekipptes Boot«, sagte er. »Mächtig zertrümmert, wie von einem Schiffsunglück.« Der Begriff tat ihm auf der Stelle leid. Schiffsunglück, Autounglück - vielleicht bemerkte Andrea die Ähnlichkeit nicht? »Ist wahrscheinlich schon Jahre her«, fügte er beruhigend hinzu. »Manchmal brauchen Trümmerteile ewig, bis sie an Land gespült werden.«
»Es war vor einer Minute noch aufrecht, Jonas«, sagte Andrea. Sie rannte zum Saum des Wassers, riss sich den rechten Schuh vom Fuß, dann den linken. Und schließlich rollte sie den Saum ihrer Shorts hoch.
»Was machst du da?«, fragte Jonas.
Andrea nahm das Sweatshirt ab, das sie sich um die Hüfte gebunden hatte. Es fiel in den Sand und einer der Ärmel hing im Wasser.
»Da war jemand in dem Boot!«, rief sie. »Ich hab ihn gesehen!«
Dreizehn
Jonas blieb kaum Zeit zum Nachdenken, ehe sich Andrea ins Wasser stürzte.
»Nein!«, schrie er ihr nach. »Das ist zu gefährlich!«
Er wusste, dass es andere Einwände gab, die er ihr hinterherrufen sollte - etwa dass sie die Zeit nicht verändern durften oder dass es womöglich eine Falle oder ein Trick des mysteriösen Unbekannten war. Doch die Wellen schleuderten sie so heftig herum, dass er vor Angst keine zwei Worte herausbrachte. Schon war sie unter Wasser, dann wieder an der Oberfläche, unter Wasser und wieder oben .
Neben ihm bellte Dare nun ungestüm Andrea hinterher. Der Hund steckte eine Pfote ins Wasser, wurde von einer riesigen Welle erwischt und wich winselnd zurück.
»Du bist mir eine schöne Hilfe«, murmelte Jonas. Er ließ das Sweatshirt fallen, das er in der Hand hielt, formte die Hände vor dem Mund zu einem Trichter und schrie: »Andrea! Komm zurück!«
Diese wandte sich kurz um - vielleicht, um etwas zurückzurufen -, ehe sie von einer Welle seitlich umgeworfen wurde und mit einem Überschlag unterging.
Sie tauchte nicht wieder auf.
»Andrea!«, schrie Jonas.
Er warf sich in die Fluten und hielt verzweifelt auf die Stelle zu, an der Andrea verschwunden war. Seine Schuhe und Kleider sogen sich in Sekundenschnelle voll Wasser und zogen ihn hinab. Aber ihm blieb keine Zeit, nicht einmal, um sich die Turnschuhe von den Füßen zu reißen. Beharrlich drängte er vorwärts, auch wenn auf dem Wasser vor ihm nun alles gleich aussah. Er wusste nicht mehr, wo Andrea verschwunden war. Er fasste hinab und seine Finger streiften etwas Weiches -Seetang? Oder Andreas Haar?
Jonas trat kräftig mit den Beinen, reckte den Kopf, so weit es ging, aus dem Wasser und versuchte tief Luft zu holen, ehe er hinabtauchte, um nach Andrea zu suchen.
Der Wind schien seinen Namen zu rufen.
»Jonas! Jonas!«
Er sah nach rechts. Es war Andrea.
»Schwimm ... parallel... Ufer!«, rief sie.
Ach ja. Das kannte Jonas. So sollte man sich verhalten, wenn man in eine Unterströmung geriet.
Er war sich nicht sicher, ob das, was an ihm zerrte, wirklich eine Unterströmung war oder einfach nur das Gewicht seiner schweren, vollgesogenen Kleidung. Trotzdem schwamm er in einer Art gemäßigtem Hunde-paddelstil auf Andrea zu.
»Es kommt näher!«, rief sie.
Jonas brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie das Boot meinte. Es kam nicht einfach nur näher, es ragte turmhoch über ihnen auf. Je nachdem, wie die
Welle brach, konnte es jeden Augenblick auf sie niederstürzen.
»Pass auf!«, schrie Jonas im gleichen Augenblick, als Andrea »Der Mann!« rief.
Jonas drehte sich kurz zum Boot um und gewahrte für einen flüchtigen Moment die Hand eines Mannes, die sich an eine der zersplitterten Planken klammerte.
»Hier lang«, rief Jonas und bekam eine Ladung Salzwasser ins Gesicht. Er hatte das Gefühl, als wäre ihm ein ganzer Eimer voll in den offenen Mund gelaufen. Er spuckte und hustete, schaffte es aber dennoch, Andrea am Arm zu packen und sie in Richtung Ufer zu schubsen. Dabei wurde er selbst zurückgeworfen und war kaum in der Lage, den Kopf über Wasser zu halten.
Die Wellen türmten sich immer höher und schließlich schleuderten sie das Boot herab.
Es landete nicht auf Jonas, sondern auf einer Felsformation, von der er nicht einmal etwas geahnt hatte. Das Boot zerschellte auf der Stelle und barst in einem Schauer aus zerbrochenen Holzplanken. Jetzt musste sich Jonas nicht mehr nur vor einem einzelnen Boot in Acht nehmen, sondern vor Dutzenden scharfkantiger Trümmerteile, die die Wellen um ihn herum pausenlos hin- und herwarfen.