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... dass auf ihn geschossen wird, begriff Jonas. Der Junge hat auf den Vogel geschossen, nicht auf mich.

Jonas' Herzschlag beruhigte sich ein wenig; seine angespannten Muskeln verließen den Panikmodus. Er drehte den Kopf zur Seite, damit er den Markerjungen sehen konnte, der in diesem Moment womöglich einen neuen Pfeil einlegte und ein Markermurmeltier oder einen in Jonas' Nähe vorbeitrippelnden Markerbiber ins Visier nahm.

Aber nicht mich, sagte er sich und hoffte damit seine Reflexe zu beruhigen. Der Marker kann mich nicht erschießen. Und selbst wenn er es täte, könnten mir die Markerpfeile nichts anhaben. Kapiert?

Doch als Jonas zu dem Jungen aufsah, legte dieser nicht wieder an. Er ließ den Bogen sinken und die Schultern hängen.

Die Marker sorgen sich auch um ihr Essen, dachte Jonas.

Er setzte sich auf und betrachtete den Marker genauer. Es war der Junge mit dem längeren, lockigen Haar. Obwohl bei einem durchsichtigen Marker die Hautfarbe schwer zu erkennen war, glaubte Jonas nicht, dass sie wesentlich dunkler war als seine eigene mit Sonnenbräune. Der Junge hatte eine schmale Nase und schma-le Lippen und seine Augen wären rund gewesen, wenn er sie nicht vor Kummer zusammengekniffen hätte.

»Du könntest Engländer sein, glaube ich«, murmelte Jonas. »Bist du einer der verschwundenen Kolonisten?«

Aber warum war er dann wie ein Indianer gekleidet? Was war mit den anderen englischen Kolonisten passiert, wenn der Junge als Einziger übrig geblieben war? Und warum war er mit dem anderen Marker zusammen, von dem Andrea mit Sicherheit annahm, dass er aus Afrika stammte?

Kopfschüttelnd versuchte Jonas die Fragen zu verscheuchen. Gleichzeitig schüttelte auch der Markerjunge den Kopf und warf sich den Bogen wieder über die Schulter. Dare winselte.

»Komm, mein Junge«, sagte Jonas zu ihm und vergaß dabei fast, dass er ihn immer noch im Verdacht hatte, ein Lockvogel oder Spion zu sein. »Wir gehen.«

Den Rest des Weges blieb der Hund ein paar Schritte hinter Jonas und dem Marker. Vielleicht hatten ihn Pfeil und Bogen ebenfalls erschreckt oder er fürchtete von Jonas wieder zu Boden geworfen zu werden. Jonas hingegen bemühte sich dem Markerjungen so dicht wie möglich auf den Fersen zu blieben. Es war zu schade, dass er nicht auch seine Gedanken lesen konnte, indem er seinen Platz einnahm. Mehrere Male blieb der Junge unvermittelt stehen und Jonas lief direkt in ihn hinein, die Knie ebenso hoch angehoben wie die des Markerjungen, die Arme im gleichen Rhythmus schwingend.

Um einen anderen Menschen zu verstehen, musst du erst in seinen Mokassins gelaufen sein, erinnerte sich

Jonas an die Redewendung eines alten Pfadfinderführers, die dieser gern benutzt hatte. Jonas und seine Freunde hatten vor Jahren beim Campen so sehr darüber lachen müssen, dass sich einer von ihnen sogar in die Hose gemacht hatte. Selbst heute (das heißt »heute« in Jonas' eigentlichem Zeitalter) brauchte nur jemand beim Hissen der Fahne oder einer anderen ernsten und feierlichen Zeremonie das Wort »Mokassins« zuflüstern, und schon mussten sich alle das Lachen verbeißen.

Indem er dort ging, wo der Markerjunge ging, und seinem Blick folgte, sobald er den Kopf wandte, merkte Jonas, dass sich der Junge auf der Jagd befand. Er jagte ohne große Hoffnung, etwas zu finden.

»Es gibt also nicht genug zu essen auf der Insel, nicht mal für zwei Jungen«, flüsterte Jonas. »Warum seid ihr dann hier?«

Alles wurde nur immer mysteriöser: Warum befanden sich die beiden Markerjungen auf Roanoke? Wo waren ihre echten Gegenstücke? Warum entsprach John Whites Rückkehr nach Roanoke nicht mit den historischen Berichten? Was stimmte nicht ihm und seinem Marker? Wo war Andreas Marker? Warum war Zwei darauf bedacht, Andrea dorthin zu schicken, wo ihr Marker nicht war? Und wer war Zwei überhaupt?

Ehe Jonas die Fragen ausgingen - oder ihm auch nur eine einzige Antwort einfiel -, gelangten sie zum Ufer und der Marker stellte sich auf eine kleine Landzunge, die ins Wasser hinausragte. Jonas vermutete, dass es sich um die gleiche Stelle handelte, an der Katherine gestern den Ast ins Wasser gehalten hatte. Doch er war sich nicht sicher. Für Besichtigungsausflüge über die Insel hatte ihm bisher die Zeit gefehlt.

Der Markerjunge stand da und sah auf die kabbeligen Wellen hinaus. Er schirmte die Augen gegen das Sonnenlicht ab, drehte sich langsam und suchte dabei methodisch das vor ihm liegende Wasser ab. Jonas tat es ihm nach. Allerdings war er nach drei Sekunden fertig -ja, da draußen ist jede Menge Wasser. Und da rechts vielleicht ein bisschen Land. Viel zu weit weg, um es ohne Fernglas richtig sehen zu können. Währenddessen setzte der Junge seine Suche fort, als sei ein Quadratzentimeter Wasser faszinierender als der andere. Als er damit fertig war, auf dem Wasser Ausschau zu halten, machte er sich daran, ebenso gründlich die Küste abzusuchen.

Plötzlich bewegte der Junge den Mund. Wenn Jonas hätte raten sollen, hätte er auf etwas wie »Da ist es!« getippt. Der Marker sprang von dem kleinen Landvorsprung herunter und begann am Ufer entlangzurennen. Erschrocken über die unerwartete Bewegung bellte Dare los.

»Schon gut, schon gut, sch!«, zischte Jonas dem Hund zu. Dann folgte er dem Markerjungen.

Die Überbleibsel des Sturms waren inzwischen an Land gespült worden, sodass Jonas toten Quallen, scharfen Muscheln und hier und da zersplitterten Holzstücken ausweichen musste.

Von John Whites Boot?, fragte er sich. Es war beängstigend, wie klein die Holzreste waren, wie gründlich sie Wind und Wasser in Stücke geschlagen hatten.

Der Markerjunge lief einige Schritte vor ihm her; dann blieb er stehen und bückte sich zwischen ein paar Felsen. Er schien am Saum des Wassers krampfhaft nach etwas zu suchen und nahm von den Wellen, die gegen seine nackten Beine schlugen, nicht die geringste Notiz.

Wenn er sich die ganze Arbeit für eine Krabbe oder eine Muschel macht, gebe ich es auf, dachte Jonas.

Plötzlich richtete sich der Markerjunge auf und hievte sich eine rechteckige Kiste auf die Schulter.

Nein, keine Kiste, verbesserte sich Jonas. Eine Truhe. Eine Schatztruhe?

Vierundzwanzig

Jonas kletterte hastig über die Felsen in der Hoffnung, die echte Kiste zu finden, ehe der Markerjunge davonging. Nach seinem Empfinden sah ein Felsbrocken aus wie der andere. Ohne den Markerjungen würde er womöglich ewig suchen müssen.

Der Junge hielt mit der Markertruhe auf der Schulter auf den nächsten Felsen zu. Es war der andere, bei dem er sich gebückt und die Truhe gefunden hat, dachte Jonas. Der, der aussieht wie eine Hexennase. Der Markerjunge lief jetzt schneller. Inzwischen war er drei Felsen entfernt. Jonas duckte sich und warf sich nach vorn, mitten durch den Markerjungen hindurch.

Der Hexennasenfelsen war hart und hatte messerscharfe Kanten.

»Schreib es dir hinter die Ohren«, murmelte Jonas. »Leg dich nicht mit Felsen an.«

Er hatte sich die rechte Handfläche und das rechte Knie aufgeschürft und ein Loch in die Jeans gerissen. Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass sein Sprung auch vergeblich hätte sein können: Was ist, wenn irgendeine Zeitabweichung sich auf die Truhe ausgewirkt hat und das echte Gegenstück gar nicht hier ist?, überlegte er.

Doch sie war da, direkt am Fuß des Hexennasenfel-sens. Wellen klatschten gegen ihre untere Hälfte, doch sie saß so fest, dass sie nicht zertrümmert werden konnte wie die Bootsplanken.

Jonas bückte sich und zog an den Griffen. Wieder bewunderte er die Kraft des Markerjungen: Jonas musste mit aller Kraft ziehen, während der Markerjunge die Truhe mühelos aufgehoben hatte.

Vielleicht war sie ursprünglich nicht so verkeilt, überlegte er.