Es stellte sich heraus, dass Jonas im Augenblick gar nichts zustande brachte außer einen gemäßigten Hundepaddelstil. Trotzdem schob er sich durchs Wasser. Katherine lehnte sich gefährlich weit über den Rand des Kanus und streckte ihm die Hand entgegen.
»Wirf uns nicht um!«, schrie Andrea mit echter Panik in der Stimme.
»Beugt euch ... andere ... Richtung«, keuchte Jonas.
Andrea und Katherine lehnten sich beide in die ihm entgegengesetzte Richtung. Selbst Dare rutschte zurück, als Jonas die Seitenwand des Kanus packte und sich mit einer letzten Kraftanstrengung über den Rand zog.
Sekundenlang schien es, als könnten sich die Dinge in alle Richtungen entwickeln. Wenn Jonas zu fest zog, würde er das Kanu auf seiner Seite umkippen. Wenn die Mädchen sich zu stark in die andere Richtung lehnten, würde es zur entgegengesetzten Seite kentern. Oder es fielen aus heiterem Himmel weitere hundert Jungen ins Kanu und versenkten es mit ihrem Gewicht.
Stattdessen plumpste Jonas ins Boot und landete ausgestreckt auf John White. Das Kanu schwankte, Dare bellte . und Jonas schloss restlos erschöpft die Augen.
Das Schwanken ging in Stillstand über.
»Katherine«, hörte Jonas Andrea leise sagen.
»Ich übernehme jetzt das Paddeln«, erwiderte Kathe-rine.
Danach bekam er eine Weile lang kaum etwas mit. Das Kanu schoss davon, doch nun schien es zu gleiten, geschmeidig und ohne jede Kraftanstrengung - jedenfalls für Jonas. Er hatte keinerlei Kraft mehr in sich.
Einmal glaubte er Katherine sagen zu hören: »Also dazu ist der Rechen da«, und dann hatte er das Gefühl, dass etwas Nasses, Schleimiges gegen seinen Knöchel stieß. Aber vielleicht hatte er das auch geträumt. Er träumte viel. Zum Beispiel, dass er in einem Pfadfinderlager war und es dort vier neue Wassersportlehrer gab, die John, Paul, Ringo und George hießen. Jonas fand, sie wirkten irgendwie vertraut.
Er träumte davon, in der Schule im Kunstunterricht zu sitzen, und ihr Lehrer, Mr Takamawa, erklärte ihnen gerade, dass sie für den Rest des Jahres nur noch amerikanische Ureinwohner zeichnen würden.
Er träumte, er wäre in einem Fischimbiss und es röche nach Rauch und gebratenem Fisch. Doch obwohl er am Verhungern war, schaffte er es nicht, aufzuwachen. Dafür rüttelte Katherine ihn an der Schulter und hörte einfach nicht auf. Sie rüttelte immer weiter und weiter und ihr »Jonas, wach auf! Wach auf, Jonas!« wurde immer lauter.
Halt! Dieser Traum war kein Traum. Er war Realität.
Jonas gelang es, die Augen einen Spalt weit zu öffnen.
»Endlich!«, platzte es aus Katherine heraus. »Wir haben es langsam mit der Angst zu tun bekommen!«
»Hä?«, murmelte Jonas. Er hatte geschlafen, was war daran beängstigend?
Mühsam machte er die Augen ein wenig weiter auf. Er lag immer noch im Kanu, doch er hatte es nun ganz für sich allein. Und falls Katherine nicht auf magische Weise die Gabe entwickelt hatte, auf dem Wasser zu sitzen, trieb das Kanu nicht mehr dahin, sondern befand sich an Land.
Kraftlos richtete sich Jonas auf den Armen auf und sah, dass sie sich auf einem Sandstrand befanden und man das Kanu vorsichtshalber hinter den Flutsaum gezogen hatte.
»Croatoan?«, murmelte Jonas. »Ist das Croatoan?«
»Wir sind noch nicht ganz da«, sagte Katherine. »Wir ...« Sie brach ab und biss sich auf die Lippe. Dann versuchte sie es in übertrieben fröhlichem Ton noch einmaclass="underline" »Wir haben einfach unterwegs eine Pause eingelegt.«
Jonas nickte. Er war zu benommen, um zu ergründen, warum sie sich auf die Lippe gebissen und davon abgehalten hatte, ihm etwas zu erzählen. Er kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen, und versuchte an Ka-therine vorbeizuschauen. In einigen Metern Entfernung hockten Andrea und Dare mit John White und den Markerjungen vor einem knisternden Feuer.
Nein, verbesserte sich Jonas. Sie sind keine Marker mehr, sie sind echt: Die Markerjungen und ihre echten Gegenstücke hatten sich wieder vereint.
Wenn er die Augen ganz schmal machte, konnte Jonas mit knapper Not die Andeutung eines Sarkasmus-T-Shirts und die kürzeren Haare des einen Jungen erkennen, und ein Beatles-T-Shirt und die raspelkurzen Haare des anderen.
»Brendan und Antonio«, sagte Katherine. »So heißen sie. Jedenfalls im einundzwanzigsten Jahrhundert. Sie haben aber auch indianische Namen.«
»Ich dächte, sie wären keine Indianer«, murmelte Jonas. Wieder äugte er zu den beiden Jungen hinüber. Für Jonas' Begriffe war die Haut des einen für einen Indianer zu dunkel und die des anderen zu hell. Und in beiden Fällen, fand Jonas, hatten sie die falschen Haare.
Andererseits benahmen sich die beiden so, als hätten sie absolut kein Problem damit, mit nichts als einem Lendenschurz herumzulaufen.
»Keiner der beiden wurde als Indianer geboren«, erklärte Katherine. »Aber ein Indianerstamm hat sie adoptiert.« Sie grinste. »Ganz schön paradox, was?«
Jonas ließ die Lider wieder zufallen. Vielleicht war er doch noch nicht bereit, richtig wach zu werden. Jedenfalls nicht, wenn er dann über Indianer nachdenken musste, die keine richtigen Indianer waren, und über Adoptionen und . wie hatten die beiden überhaupt einfach aus dem Nichts auftauchen können?
Katherine stieß ihn an.
»Lass das!«, sagte sie. »Du musst wach bleiben, damit du was essen kannst.«
»Essen?«, murmelte Jonas und machte die Augen wieder auf. »Was denn?«
»Wir sind mit dem Kanu zum Angeln rausgefahren -also, vor allem Brendan und Antonio«, erklärte Kathe-rine. »Das können sie richtig gut, wenn sie mit ihren Markern zusammen sind, weißt du. Weil die Marker sich damit auskennen. Erinnerst du dich noch an das Paddel, das wie ein Rechen aussieht?«
»Das ist eine Angel?«, fragte Jonas.
»Eher ein Netz«, sagte Katherine. »Aber du warst ziemlich dicht dran.«
Jonas wären Cheeseburger und Pommes lieber gewesen, aber der Fisch roch wirklich gut. Außerdem war er keines von Zweis mysteriösen Pellets.
»Komm mit«, sagte Katherine und zog ihn am Arm.
Jonas ließ sich von ihr zum Feuer führen. Überrascht stellte er fest, wie schwach er sich immer noch fühlte. Das konnte doch gewiss nicht nur vom Paddeln, Wassertreten und Schwimmen kommen.
Ich war schon müde, bevor ich aus dem Boot fiel, überlegte er. Aber so mies habe ich mich erst gefühlt, nachdem dieser Kerl auf mich draufgefallen ist . mich angesprungen . und gerammt hat.
Sein Verstand schreckte immer noch davor zurück, sich mit diesem Moment zu befassen. Jonas stolperte an den beiden Jungen vorbei, die von einem improvisierten Gestell am Feuer Fische herunternahmen. Einen nach dem anderen legten sie die garen Fische auf große Blätter - anstelle von Tellern, wie Jonas annahm.
»Äh, hallo«, murmelte er, weil er es irgendwie unhöflich fand, gar nichts zu sagen.
Er glaubte zu bemerken, dass einer der Jungen sich kurzfristig von seinem Marker löste, um ihn mit einem steifen Nicken zu begrüßen, doch er war sich nicht sicher.
»Das ist Brendan«, sagte Katherine. »Er ist sehr nett. Aber er und Antonio versuchen die meiste Zeit mit ihren Markern zusammenzubleiben, außer wenn sie sicher sind, dass die Marker sich für eine Weile nicht von der Stelle rühren.«
Irgendetwas an ihrer Formulierung störte Jonas, aber sein Verstand arbeitete noch nicht gut genug, um den Grund dafür herauszufinden.
In diesem Moment sagte der andere Junge - Antonio? - etwas zu Brendan, was Jonas nicht richtig mitbekam. Er konnte nicht einmal sagen, ob es Englisch oder eine andere Sprache gewesen war.
»Sie sprechen einen Algonkin-Dialekt«, sagte Kathe-rine.
»Woher weißt du das?«, fragte Jonas. War das noch etwas, was er im Gemeinschaftskundeunterricht hätte lernen müssen?
»Sie haben es mir gesagt«, erklärte Katherine. »Wir waren draußen im Kanu lange zusammen.«
Zum ersten Mal fiel Jonas auf, dass Katherine im Gesicht einen Sonnenbrand hatte und, er fasste sich ins eigene Gesicht, er ebenfalls. Er warf einen Blick über die Schulter und sah, wie tief die Sonne am Himmel stand.