»Dann habt ihr den ganzen Tag im Kanu gesessen?«, fragte er. »Und ich habe die ganze Zeit über geschlafen?«
»So ziemlich«, sagte Katherine. »Verstehst du jetzt, warum wir uns Sorgen gemacht haben?«
Jonas tat das mit einem Achselzucken ab. Er wollte vor zwei Jungen, die er nicht einmal kannte, keine allzu klägliche Figur abgeben. Aber wie konnte er den ganzen Tag durchgeschlafen haben?
Antonio nutzte den Augenblick, um aufzustehen und sich zu recken, wobei er einen perfekten Waschbrettbauch zur Schau stellte. Jonas fühlte sich bei diesem Anblick noch kläglicher als zuvor, denn er hatte das Gefühl, als wären seine eigenen Muskeln wie aus Gummi, wund und schlapp. Allerdings hatte er nicht die Absicht, dem anderen zu zeigen, wie ihm zumute war, und musterte ihn mit eindringlichem Blick.
Plötzlich stutzte er.
»Moment!«, sagte er. »Dich kenne ich doch! Hast du nicht ein Sweatshirt mit Totenkopf angehabt? Damals in der Höhle?«
In der Höhle im Zeittunnel, an jenem Tag, als Jonas erfahren hatte, dass er zu den verschollenen Kindern der Geschichte gehörte, war auch eine Gruppe Jugendlicher mit Totenkopf-Sweatshirts gewesen. Sie hatten sich Jonas und Katherine gegenüber nicht gerade vor Freundlichkeit überschlagen. Und wenn er nicht so viele andere Sorgen gehabt hätte, hätte er sich wohl vor ihnen gefürchtet.
Jetzt schien der Junge, der vor ihm stand, zu erzittern, sein modernes Ich löste sich ein wenig von seinem Scheinindianer-Ich. Jonas entdeckte an seinem Hals einen Streifen des Sarkasmus-T-Shirts und ein zartes Markerleuchten hinten in seinem Nacken.
»Ja und?«, knurrte Antonio. »Was geht dich das an?«
Jonas zuckte zurück. Nach seiner Erfahrung war das die Art von Kommentar, die Schulrowdys von sich gaben, wenn sie nach jemandem suchten, den sie verprügeln konnten. Er hatte solche Kommentare immer als Stichwort aufgefasst, sich davonzustehlen und vor irgendwelchen Fäusten in Sicherheit zu bringen.
Doch das war, bevor er das Mittelalter überlebt und sich mit Zeitexperten angelegt hatte, um seine Freunde zu retten; bevor er einen Mann vor dem Ertrinken gerettet und auf der vermurksten Insel Roanoke gestanden und Zwei angebrüllt hatte.
Jonas trat auf Antonio zu.
»Dann bist du ein berühmtes verschollenes Kind der Geschichte, genau wie Andrea und ich«, sagte er. »Also wer bist du wirklich? Warum hat HK dich auf die Art hierhergeschickt... auf uns drauffallen lassen?« Jonas war stolz, dass er das herausbrachte und beschreiben konnte, was passiert war. »Wusste HK nicht, dass wir da waren? Weiß er es jetzt? Was sollt ihr hier eigentlich tun?« Jonas' Verstand arbeitete immer noch nicht ganz normal, trotzdem stellte er fest, dass ihm haufenweise Fragen einfielen. Eine davon war so genial, dass er vor Aufregung fast ins Stottern geriet, als er sie aussprach. »H-habt ihr einen Definator dabei? Könnt ihr uns mit HK reden lassen?«
Katherine legte ihm warnend die Hand auf den Arm. »Jonas, es war nicht HK, der Brendan und Antonio in die Vergangenheit geschickt hat«, sagte sie. »Wer dann?«
»Irgendein Typ, der Zwei heißt«, murmelte Antonio. Er machte schmale Augen und fügte spöttisch hinzu: »Kennst du den?«
Dreißig
»Ihr arbeitet für Zwei?«, fragte Jonas.
Er ging noch einen Schritt auf Antonio zu und hätte ihm glatt einen Kinnhaken verpasst, wenn Katherines Hand nicht auf seinem Arm gelegen hätte. Sie hielt ihn zurück und packte schnell auch seinen anderen Arm, ehe er auf die Idee kommen konnte, ihm einen linken Haken zu verabreichen.
Und Jonas war so erbärmlich schwach, dass er sich nicht losreißen konnte.
»Hör auf, Katherine!«, brüllte er.
»Nein, du hörst auf!«, schrie Katherine zurück. »Du benimmst dich wie ein Idiot! Antonio arbeitet genauso wenig für Zwei wie wir! Und Brendan auch nicht!«
»Woher willst du das so genau wissen?«, fragte Jonas, während er gegen sie ankämpfte.
»Weil ich den ganzen Tag mit ihnen geredet habe, während du geschlafen hast«, erwiderte sie. »Und kaum bist du wach und Antonio sagt zwei, drei Worte zu dir, glaubst du schon genug zu wissen, um Leute zusammenschlagen zu dürfen?«
»Dazu war nur ein Wort nötig«, murmelte Jonas. »Zwei.«
»Du bist genau wie all die anderen Weißen, die hierherkommen. In unser Land«, sagte Antonio. »Ihr kämpft, stehlt und tötet, bevor ihr von irgendwas eine Ahnung habt.«
Antonio musste sich noch weiter von seinem Marker lösen, um das zu sagen. Noch während er sprach, wandte sich sein Marker komplett von ihm ab und ging mit ein paar Fischen zu Andreas Großvater hinüber. Antonio verstummte und fasste sich an den Kopf.
»Das war völlig verrückt«, sagte er. »Es hat sich angefühlt, als würde ich mit meinem eigenen Verstand denken, aber gedacht habe ich genau wie mein Marker.«
Jonas lag es auf der Zunge zu sagen: Tja, Kumpel. Du bist eben auch ein Weißer. Schon mal daran gedacht? Hat dein Marker noch nie in den Spiegel geschaut? Außerdem - was habe ich gestohlen oder umgebracht? Aber Katherine starrte ihn derart finster an, dass er be-schloss, die Sache lieber nicht auf die Spitze zu treiben.
»Setzen wir uns hin und essen etwas«, sagte Andrea besorgt. »Dann können wir alles austüfteln.«
»Hier«, sagte Katherine und drückte Jonas ein Blatt mit einem Fisch in die Hand. »Du hast bloß schlechte Laune, weil du hungrig bist.«
Das war genau die Art von Kommentar, die Jonas' Mutter abgeben würde. Er wollte lieber nicht darüber nachdenken, was seine Mom gesagt hätte, wenn sie mit angesehen hätte, wie er versuchte, jemanden zu verprügeln. Um sich abzulenken, sah er auf den Fisch hinab.
Der Fisch erwiderte seinen Blick - jedenfalls kam es ihm so vor. Seine kleinen Knopfaugen saßen noch an ihrem Platz. Genau wie sämtliche Schuppen und Flossen.
»Frag bloß nicht, ob du Fischstäbchen haben kannst«, sagte Antonio höhnisch.
Jonas schluckte schwer.
»Das hatte ich nicht vor«, sagte er.
»Schmeckt bestimmt köstlich«, sagte Katherine kläglich. Sie stupste ihren eigenen Fisch an und schien erleichtert zu sein, dass er sich nicht bewegte. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, schien sie fast darauf zu warten, dass er vom Blatt sprang, zum Wasser fluppte und davonschwamm.
»Aber es ist nicht das, was ihr gewöhnt seid, stimmt's?«, fragte Brendan. »Tut mir leid. Wir haben versucht mit unseren Markern zusammenzubleiben und wussten nicht, wie wir den Fisch sonst zubereiten sollten, außer auf ihre Art.«
Gekonnt zog er einige Gräten ab und steckte sich ein Stück Fisch in den Mund. »Er ist wirklich gut.«
Wieder störte Jonas etwas an der Art, wie er davon sprach, mit seinem Marker zusammenbleiben zu wollen. Er wechselte einen Blick mit Katherine, die warnend den Kopf schüttelte. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?
»Wenigstens haben sie ein Feuer in Gang bekommen«, sagte Andrea und nahm je ein Blatt mit Fisch für sich selbst und für Dare, ehe sie davonging, um sich in die Nähe ihres Großvaters zu setzen. »Wenigstens müssen wir ihn nicht roh essen.«
Ich habe es auf Roanoke auch geschafft, Feuer zu machen, wollte Jonas einwenden. So toll sind die Kerle auch wieder nicht!
Allerdings hätte er nicht gewusst, wie man das rechenartige Paddel zum Fischefangen verwendete. Und er hätte auch nicht gewusst, wie man das hölzerne Gestell errichtete, auf dem die Fische über dem Feuer gegart wurden. Er hätte den Weg zur Insel Croatoan nicht gekannt . vorausgesetzt, Brendan und Antonio kannten ihn.
Jonas probierte einen Bissen Fisch. Er schmeckte wirklich nicht schlecht, solange man nicht darüber nachdachte, dass er ein Gesicht hatte. Und solange man die Gräten ausspuckte. Jonas kaute mit Bedacht und überlegte, wie er die vielen Fragen loswerden konnte, die in ihm brodelten, ohne abermals eine Prügelei mit Antonio zu riskieren.