»Dann hat Zwei die Zeit vielleicht gar nicht so schlimm sabotiert«, sagte Andrea. »Das einzig Wichtige, das auf Roanoke durcheinandergeraten ist, ist die Tatsache, dass die falschen Kinder meinen Großvater vor dem Ertrinken gerettet haben.«
»Und dass er am Kopf verletzt wurde«, ergänzte Anto-nio. Jonas war froh, dass Antonio darauf hingewiesen hatte, denn Andrea funkelte ihn bereits wütend an.
»Schon, aber .« Sie schien um jeden Preis an ihrer Begeisterung festhalten zu wollen. Sie sah nach unten und ihr ganzer Gesichtsausdruck veränderte sich. »Ich wette, seine Kopfverletzung ist gar nicht so schlimm! Jetzt wo Antonio und Brendan wirklich hier sind und er sie genauso gut sehen kann wie sein Marker, ist er wahrscheinlich nur wegen uns bewusstlos! Weil sein Verstand nicht damit fertig wird, dass wir in Klamotten aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert herumlaufen!«
Sie sprang auf und begann in der Schatztruhe ihres Großvaters zu wühlen. Jonas wusste genau, was sie suchte: die Kleider. Sie zerrte ein blassgelbes Kleid mit einem winzigen Rosenmuster heraus.
»Lass das, Andrea«, sagte Katherine scharf. »Das kann nicht die Antwort sein. Im fünfzehnten Jahrhundert haben die Leute Jonas und mich auch in modernen Kleidern gesehen und niemand ist davon halb ohnmächtig geworden!«
»Lasst es mich einfach versuchen«, widersetzte sich Andrea störrisch.
Sie zerrte sich das Kleid über die Schultern und ihr T-Shirt und die Shorts verschwanden darunter. Der Kleidersaum schleifte über den Sand, als sie zu ihrem Großvater eilte. Er lag flach auf dem Rücken und seine Markeraugen starrten in den dämmrigen Himmel. Seine echten Augen waren nach wie vor geschlossen.
Andrea kniete sich neben ihn. Das Kleid brachte sie dazu, sich anders zu bewegen, oder sie bemühte sich absichtlich, sich wie ein Mädchen aus dem Jahr 1600 zu benehmen.
»Großvater?«, murmelte sie. »Soeben hörte ich von deiner Ankunft und dass diese beiden, äh, edlen Eingeborenen dich gerettet haben. Sie schickten mir eine Nachricht, zu kommen, und gaben mir dies Kleid, das du hierherbrachtest. Bitte, bitte, wach auf.«
In gewisser Weise wirkte Andrea ebenso lächerlich wie Jonas, als er auf Roanoke Fluch der Karibik nachgespielt hatte. Doch der Blick, mit dem sie ihren Großvater betrachtete, war voller Hoffnung.
John White bewegte sich und wälzte sich hin und her. Andrea ergriff seine Hand.
»Großvater?«
John White öffnete den Mund.
»Schwindel!«, schrie er. »Verrat! Betrug!«
Entgeistert sackte Andrea neben ihm zusammen und vergrub das Gesicht in ihrem Rock.
»Andrea!«, rief Jonas. »Er meint nicht dich! Er hat die Augen geschlossen! Er und sein Marker denken einfach nur das Gleiche. Es war Zufall!«
»Die Wilden haben uns betrogen und wir betrogen sie«, fuhr John White fort. »Und nie traf ich einen Kapitän, dem ich Vertrauen schenken konnte.«
Jonas tätschelte Andrea den Rücken.
»Siehst du, es hat nichts mit dir zu tun!«, sagte er. »Es ist einfach so, dass du mit deinem Marker zusammen sein musst! Wir finden ihn! Das verspreche ich dir!«
»Geh weg«, murmelte Andrea. »Lass mich in Ruhe.«
Brendan ließ seinen Marker stehen und kauerte sich neben sie.
»Andrea?«, sagte er. »Ich weiß nichts von deinem Marker und ich weiß auch nicht, warum mein Marker nicht an Croatoan denkt. Aber ich kann dir versichern, Antonio und ich, und unsere Marker, wir sind ehrenhafte Stammes-... äh, Leute. Wenn unsere Marker John White versprochen haben ihn nach Croatoan zu bringen, dann fahren wir auch dorthin. Dein Marker ist wahrscheinlich dort, nicht?«
»Das nehmen wir an«, sagte Andrea und schniefte ein wenig.
»Jonas?«, sagte Katherine mit überlauter Stimme. »Meinst du nicht, wir sollten noch mal nach dem Haarband suchen?«
»Äh, ja richtig«, sagte Jonas.
Wieder gingen sie zusammen in Richtung Kanu.
»Denkst du das Gleiche wie ich?«, fragte Katherine.
»Weiß ich nicht«, sagte Jonas. »Was denkst du denn?«
Das hätte ein Slapstick aus einer Comedy-Show sein können, doch Katherines Stimme enthielt nicht den leisesten Funken Humor. Und auch Jonas war nicht nach Lachen zumute.
»Möglicherweise hat die Geschichtsschreibung nichts von John Whites Reise im Jahr 1600 gewusst«, sagte Katherine, »aber die Zeitreisenden hätten davon gewusst.«
»HK wusste es«, sagte Jonas erbittert.
»Und . selbst bevor Zwei ins Spiel kam . hätte uns
HK nicht mit Andrea zurückgeschickt, wenn ihr lediglich ein nettes kleines Familientreffen bevorstand«, sagte Katherine. »Es gibt immer noch etwas, vor dem wir sie retten müssen.«
»Gut möglich«, sagte Jonas. »Und wer rettet uns dann vor Zwei?«
Vierunddreißig
Am nächsten Morgen wurde Jonas vom Duft brutzelnder Fische geweckt. Er stöhnte und wälzte sich zur Seite.
Andrea saß direkt neben ihm im Sand und blätterte durch eines von John Whites Skizzenbüchern. Sie schien darauf gewartet zu haben, dass er aufwachte, denn sie hob sofort den Kopf.
»Ich war gestern gemein zu dir«, sagte sie. »Das tut mir leid.«
»Schon in Ordnung«, sagte Jonas.
»Nein.« Andrea schüttelte den Kopf, dass ihre Haare flogen. »Ist es nicht. Ich ... hattest du schon mal das Gefühl, dass du dich mit aller Kraft für etwas, oder für jemanden, einsetzen musst, weil du ansonsten genauso gut tot sein könntest?« Sie ließ Jonas keine rechte Chance zu antworten. Und das war gut so, denn er wusste nicht, was er sagen sollte.
Den Blick auf das Skizzenbuch geheftet, redete Andrea weiter.
»Seit meine Eltern gestorben sind, verrenne ich mich immer wieder in Dinge und vergesse dabei, dass auch andere Leute Gefühle haben.«
Gab es irgendeine Möglichkeit für Jonas, ihr zu sagen:
O ja, ich habe auch Gefühle. Ich empfinde nämlich ziemlich viel für dich, ohne dass es hoffnungslos kitschig klang?
Es war unmöglich, beschloss er.
»Schon in Ordnung«, sagte er noch einmal. »Es ist nur . warum liegt dir so viel an deinem Großvater? Du kennst ihn doch nicht einmal!«
»Aber es fühlt sich so an, als ob«, erwiderte Andrea leise. »Was ich über ihn gelesen habe und was er über die Versuche geschrieben hat, zu seiner Familie zurückzukehren, so ähnlich geht es mir mit .du weißt schon.« Sie musste meinen Eltern nicht erst aussprechen. »Und wenn ich die Bilder anschaue, die er gezeichnet hat. Sie sehen so echt aus.«
Sie drehte das Skizzenbuch in Jonas' Richtung. Er setzte sich auf, damit er besser sehen konnte, welches Bild sie gerade betrachtete. Es zeigte ein weiteres Indianerdorf, aber aus einer anderen Perspektive als die vorherige Zeichnung, die Jonas gesehen hatte. Es war, als hätte John White mitten auf dem Dorfplatz gestanden und sich ringsherum alles angesehen: Hunde, die in der Sonne dösten; kleine Jungen, die die Maisfelderbewachten; Frauen, die ihren Töchtern das Haar flochten.
»Er war ein echt guter Maler«, sagte Jonas, obwohl er von Kunst eigentlich nichts verstand. »Das Bild gibt einem das Gefühl, als wäre man wirklich dort und die Leute alle noch am Leben.«
Dann wurde ihm klar, dass das durchaus möglich war.
»Ich versuche mir einzureden, dass es auf Croatoan so sein wird«, sagte Andrea. »Nur dass es dort noch eine weitere Gruppe von Leuten gibt, die aus England hierhergekommen ist...«, sie zeigte auf den leeren Teil an der Seite des Blattes, ». und sich wunderbar einfügt. Und ein Großvater, Gouverneur und Künstler, der hellwach und bereit ist, sie alle zu malen.«
»Andrea«, sagte Jonas.
»Lass mir einfach ein bisschen Hoffnung, ja?«, bat sie ihn.
Nachdem sie ihr Vollfischfrühstück weggeräumt hatten, machten sie sich auf den Weg. Es stellte sich heraus, dass Katherine und Andrea einen Rhythmus entwickelt hatten, wie sie den ganzen Tag im Kanu verbringen konnten. Was auch geschah, niemand durfte Brendan und Antonio in die Quere kommen, die beim Paddeln mit ihren Markern zusammenbleiben mussten, damit sich das echte Kanu und das Markerkanu exakt überlappten - und John White nicht von seinem Marker getrennt wurde. Hin und wieder legten Brendan und Antonio eine Paddelpause ein. Dann lösten sich die beiden Jungen so weit von ihren Markern, dass sie sich unterhalten konnten.