Er holte tief Luft.
»Andrea!«, rief er unsicher. »Komm schnell. Ich habe deinen Marker gefunden!«
»Was?«, schrie Katherine. »Jetzt? Machst du Witze?«
Brendan erstarrte, obwohl er gerade das Seil ins Kanu zurückwerfen wollte und sein Marker ohne ihn weitermachte. Antonio fiel fast das Paddel aus der Hand. Und Andrea sprang aus dem Boot.
»Ich wusste, dass wir sie finden!«, rief sie aus. »Ich wusste, dass John White seine Enkeltochter wiedersieht!«
Andrea rannte auf Jonas, Dare und den Marker zu. Sie blieb erst stehen, als sie neben Jonas anlangte und direkt vor ihrer Doppelgängerin stand. Ihr stockte der Atem.
»Du hast keine Zeit, herumzustehen und darüber zu staunen, wie seltsam das alles ist«, murmelte Jonas.
»Wie komme ich ...?«, fragte Andrea. »Muss ich springen? Die Luft anhalten? Die Augen zumachen? Rückwärtsgehen?«
Jonas gab ihr einen Schubs. Er hätte es sicher behutsamer anstellen können, doch er wusste, dass ihnen die Zeit davonlief.
Immer noch mit offenem Mund stolperte Andrea vorwärts. Sie wirbelte herum, schob ihre Konturen über die Konturen, ihre Gliedmaße über die Gliedmaße des Markermädchens: Sie hatte einen Arm um einen Baumstamm geschlungen und einen Fuß angehoben, als wollte sie gleich davonstürmen.
Dann tauchte ihr Gesicht aus dem Gesicht des Markermädchens auf.
»Sie lebt nicht auf dieser Insel«, erklärte Andrea atemlos. Sie ist von weit her auf dem Festland gekommen. Sie weiß, dass die Skelette hier sind, und will sie begraben, um die Leute von Croatoan zu ehren . Sie hat nicht damit gerechnet, dass sonst noch jemand auf die Insel kommt!«
»Schön«, sagte Jonas ungeduldig. »Und?«
Andrea lehnte das Gesicht zurück in das ihres Markers und tauchte gleich darauf wieder auf. Diesmal hatte sich ihr Gesichtsausdruck verändert, deshalb war es leicht, sie und ihren Marker auseinanderzuhalten. Das Markermädchen wirkte ein wenig besorgt.
Andrea sah wütend aus.
»Nein!«, schrie sie. »Das ist nicht fair! So darf es nicht ablaufen!«
»Wie?«, fragte Jonas.
»Sie will sich verstecken, bis die Fremden abfahren«, erklärte Andrea. »Sie weiß nicht mal, dass ihr Großvater bei ihnen ist! Sich so nahe zu sein und sich doch nicht zu begegnen - das lasse ich nicht zu!«
»Andrea«, sagte Jonas, dass es fast klang wie eine Entschuldigung. »Das ist nicht deine Entscheidung. Du kannst deinem Marker nichts vorschreiben. Du kannst nur für dich selbst entscheiden.«
Jonas überlegte, wie er ihr sämtliche potenziellen Möglichkeiten aufzählen sollte. Idealerweise würden sie sich alle entscheiden können. Jeder konnte mit seinem jeweiligen Marker zusammenbleiben, egal was geschah. Oder sie blieben alle auf Croatoan und ließen die Marker von Brendan, Antonio und John White als Geister allein weiterziehen. Oder die Kinder brachen alle zusammen in einem Kanu auf und ließen Andreas herbeigesehnten Marker zurück. Nur Jonas und Kathe-rine hatten keinen Marker, für oder gegen den sie sich entscheiden mussten, wenn es galt, zwischen ihren Freunden und dem Schicksal abzuwägen.
Die Zeit war zu knapp, um irgendetwas davon zur Sprache zu bringen. Wieder schrie Andrea los.
»Nein! Mein Marker wird ihrem Großvater nie begegnen! Und mein Großvater wird mich niemals wirklich sehen! Nein! Das kann nicht sein! Du-kommst-mit-mir!«
Jonas war klar, dass sie nicht mit ihm sprach.
Andrea hatte ihren Marker an den Händen gepackt und versuchte ihn hinter dem Baum hervorzuziehen. Es war ein merkwürdiger Anblick, so als sähe man jemanden mit seinem eigenen Schatten ringen - aber als Teil dieses Schattens.
Aufgeregter als je zuvor winselte Dare und wich zurück. Jonas packte das Halsband fester.
»Jonas! Andrea! Los, kommt!«, rief Brendan hinter ihnen. »Mein Marker ist fertig! Ich steige jetzt ins Kanu. Wir fahren ab!«
»Nein-tut-ihr-nicht!«, schrie Andrea.
Das Marker-Andrea-Gespann trat einen Schritt vor.
Eine optische Täuschung, dachte Jonas. Ein Hirngespinst.
Dann noch einen Schritt.
Andrea grinste.
Doch es war nicht nur sie, die grinste. Auch das Markermädchen tat es und die Lachfältchen um ihre Augen strahlten zu ihren Zöpfen aus.
»Wartet!«, rief Andrea/Virginia, und obwohl Jonas sie vollkommen verstand, wusste er, dass sie nicht Englisch sprach. Sie benutzte einen weiteren Algonkin-Dialekt, der dem ähnelte, den Brendans und Antonios Marker verwendeten.
Andrea kannte keine Algonkin-Dialekte. Oder doch?
»Entfernt euch nicht mit solcher Hast«, fuhr Andrea/ Virginia fort und ging im Sonnenlicht auf Brendan zu. »Habt ihr einen Geistermann in eurem Kanu? Ich bin ein Geistermädchen und er gehört vielleicht zu meiner Sippe.«
Brendan drehte sich um.
Nein, es war das Brendan-Marker-Gespann, das sich umdrehte. Auch der Marker drehte sich um!
Das kann nicht sein, dachte Jonas. Ich weiß, dass das nicht passiert ist. Andreas Marker hätte nicht gerufen. Und Brendans Marker hätte sich nicht umgedreht.
»Bist du ein verirrter Totengeist?«, fragte Brendans Marker. Seine Knie stießen leicht aneinander und Jonas fand es ziemlich mutig von ihm, nicht davonzulaufen, obwohl er solche Angst hatte.
»Nein«, sagte Andrea/Virginia. »Ich bin lebendig. Aber ich habe meinen Großvater verloren.«
Brendans Marker zögerte. Dann wies er mit der Hand zum Kanu.
»Dann komm und finde ihn«, sagte er.
Neununddreißig
Andrea/Virginia rannte über den mit Knochen übersäten Strand. Jonas riss ungläubig den Kopf herum und starrte ihr nach. Aus den Augenwinkeln gewahrte er dort, wo kurz zuvor Andreas Marker gestanden hatte, etwas Blasses. Er wandte den Kopf: Dort stand immer noch ein Marker. Dieser hier war noch verschwommener, noch weniger greifbar, und verflüchtigte sich vor seinen Augen. Jonas sah Andrea nach: Ja, sie trug immer noch das Kleid aus Rehleder und die Zöpfe. Und sie war nach wie vor mit ihrem Marker zusammen.
Ein Marker am falschen Ort und der andere löst sich auf... Ich dachte, Marker können sich nicht verändern, wunderte sich Jonas. Heißt das . Andrea hat die Zeit vollkommen verändert? Selbst die ursprüngliche Zeit? Geht das denn?
Draußen auf dem Wasser glitt ein ebenso geisterhaftes Kanu lautlos von der Insel fort, an den Paddeln die kaum wahrnehmbaren Marker von Geht Voller Stolz und Der Vieles Überlebt. Wenn er die Augen zusammenkniff, erkannte Jonas gerade eben die durchsichtige Hand des Markers von John White, der sich an den Rand des Kanus klammerte.
Dann verschwand auch das Markerkanu ganz und gar.
Wenn er jedoch ein paar Schritte vorwärtsging und den Blick wieder auf die Wasserkante richtete, sah Jonas Antonio/Geht Voller Stolz und Brendan/Der Vieles Überlebt - beide in einem Lendenschurz - neben dem echten Kanu stehen. Die Brendangestalt bückte sich und ging neben John White in die Hocke.
»Er ist verwundet und krank und kommt nicht zu sich«, sagte Brendan.
»Er hat viel Schlimmes mit angesehen«, sagte Andrea. »Es steht in seinem Gesicht geschrieben.«
Jonas hatte aufgehört, an sie als Andrea/Virginia zu denken. Sie sah immer noch aus wie das Markermädchen und war nach wie vor mit ihm verschmolzen. Doch Andrea hatte die Kontrolle übernommen.
Sie bückte sich, streichelte ihrem Großvater die Stirn und strich ihm die Haare zurück.
»Deine Mühen haben jetzt ein Ende«, sagte sie.
Jonas sah, wie John Whites Augenlider flatterten - die echten Lider diesmal.
»Großvater?«, flüsterte Andrea. So hatte sie ihn schon öfter genannt, aber jetzt klang es anders.
Jonas konnte einen winzigen Akzent heraushören; es war kein britischer Akzent, sondern Algonkin. Und er hörte sich ... richtig an.
John Whites Lider flatterten nicht mehr, er blinzelte. Dann schlug er die Augen ganz auf und sein Blick wurde klar. Selbst aus dieser Entfernung konnte Jonas se-hen, dass John White den Blick auf Andreas Gesicht gerichtet hatte.