»Oh, mein Kind«, flüsterte er. »Mein Kind. Du siehst aus wie meine Tochter Eleanor.«
»Eleanor war meine Mutter«, sagte Andrea. Sie berührte die Wange ihres Großvaters. »Sie hat immer gesagt, du würdest zurückkommen.«
Jonas sah, wie Katherine aus dem Kanu stolperte. Zuerst dachte er, sie wollte einfach nur Platz machen, damit Andrea und ihr Großvater sich unterhalten konnten, jetzt, wo er sie wirklich sah und nicht mehr nur im Schlaf sprach. Doch Katherine lief immer weiter, vorbei an den Knochen, auf Jonas zu.
Nur wenige Schritte von ihm entfernt schienen sie die Kräfte zu verlassen. Sie klammerte sich an einen Baum, als könnte sie sich ohne seine Hilfe nicht auf den Beinen halten.
»Was ist da gerade passiert?«, fragte sie. »Was war das?«
Jonas öffnete den Mund, obwohl er nicht die leiseste Ahnung hatte, was er ihr sagen sollte.
»Eine ausgezeichnete Frage, meine Liebe«, sagte da eine Stimme hinter Jonas. »Ich würde es eine zweite Chance nennen. Was - nicht ganz zufällig - auch mein Name ist.«
Katherine blieb der Mund offen stehen und ihre Augen schienen doppelt so groß zu werden.
»Dann sind Sie . Zwei?«, flüsterte sie.
Vierzig
Jonas wirbelte herum.
Ein Fremder stand hinter ihm. Wären sie im einundzwanzigsten Jahrhundert gewesen, hätte er den Mann als einen typischen Vertreter der Gattung Computer-freak beschrieben. Er hatte käsige Haut, als wäre er schon ewig nicht mehr vor die Tür gekommen. Sein blondes Haar stand in alle Himmelsrichtungen ab, als hätte er, wie Einstein, zu viele andere Dinge im Kopf, um ans Kämmen zu denken. Außerdem war sein Hemd auf der einen Seite in die Hose gesteckt und hing auf der anderen heraus, obwohl das, soweit es Jonas betraf, auch ein Modetrend der fernen Zukunft sein mochte.
»Zwei T. Chance, zu euren Diensten«, sagte der Mann und verbeugte sich leicht. Er kürzte die Verbeugung ein wenig ab und richtete sich hastig wieder auf, um Jonas prüfend ins Gesicht zu sehen. »Aber ich bin unvorsichtig. Wenn man bedenkt, dass du Antonio auf den reinen Verdacht hin, er könnte für mich arbeiten, verprügeln wolltest, siehst du es mir sicher nach, dass ich mich nicht in eine derart angreifbare Position bringen will.« Er legte nachdenklich den Kopf schief. »Obwohl verdat-tert eure Gefühlslage aller Voraussicht nach wesentlich treffender beschreibt als wütend.«
»Ich ... Sie ...«, Jonas brachte kaum ein Wort zustande, geschweige denn irgendwelche Boxhiebe.
»Seht ihr?«, sagte der Mann. »Genau wie ich vorhergesagt habe.«
Jonas kapierte immer noch nicht, was vor sich ging, aber es gefiel ihm nicht, Zwei zu bestätigen.
»Also ...«, nahm er noch einmal Anlauf und versuchte seinen Verstand so weit zusammenzunehmen, dass er eine vollständige Frage stellen konnte. »Ist es das hier, worauf Sie die ganze Zeit aus waren?« Er machte eine lasche Handbewegung in Andreas Richtung, die sich im Kanu tief über ihren Großvater beugte. »Dass Andrea und ihr Großvater - ich meine, Virginia Dare und John White - zueinanderfinden?«
»Ganz genau«, sagte Zwei und strahlte.
Nicht weniger verwirrt als vorher kniff Jonas die Augen zusammen. Er hatte sich so sehr daran gewöhnt, an Zwei als jemand Böses zu denken, als jemanden, dem man sich widersetzen musste. Widerstehen.
»Sie wollen, dass Andrea glücklich ist?«, fragte Jonas.
»Du nicht?«, fragte Zwei zurück.
»Doch, sicher ... aber so ist es ursprünglich nicht gewesen«, sagte Katherine. »Das hier war nicht vorgesehen.«
Zwei seufzte. Er warf einen Blick auf etwas in seiner Tasche.
»Ihr habt drei Minuten und einundvierzig Sekunden gebraucht, um zu diesem Schluss zu kommen«, sagte er. »Das ist in etwa das, was ich vorhergesehen hatte. Ich lag nur zwei Sekunden daneben. Trotzdem ist es ein bisschen enttäuschend. Ihr habt gerade den größten wissenschaftlichen Durchbruch seit der Entdeckung des Zeitreisens miterlebt und euch fällt nichts anderes ein als: >Das hier war nicht vorgesehen<?«
Es war gemein, wie er Katherine nachahmte, und ließ sie kindisch und albern wirken.
»Wie eure Freundin Andrea so schön festgestellt hat, war die ursprüngliche Zeit kein kostbares, absolut vollkommenes Juwel«, sagte Zwei. »Ist es nicht besser, einen alten Mann und ein kleines Mädchen glücklich zu machen?«
Es missfiel Jonas, dass Zwei Andrea als klein bezeichnete.
»Aber . aber . wenn man die Zeit verändert, kann es passieren, dass man ein gefährliches Paradox verursacht«, wandte er ein. »Dass die eigenen Eltern nie geboren werden. Oder man verändert etwas anderes und, keine Ahnung, in ein paar Hundert Jahren gewinnt dann der Süden den amerikanischen Bürgerkrieg und nicht der Norden. Die Sklaverei wird nicht abgeschafft. Hitler gewinnt den Zweiten Weltkrieg. Oder ...«
Jonas suchte nach weiteren schlimmen Beispielen, die aufzeigen sollten, wie die Geschichte noch aus dem Ruder laufen könnte. Doch er konnte nicht klar denken, weil Zwei ein derart spöttisches Grinsen aufgesetzt hatte, dass er fast gluckste.
»Und wenn wir nun dafür sorgen, dass Hitler den Zweiten Weltkrieg gar nicht erst anfängt?«, fragte er mokant. »Oder dass die Sklaverei in den Vereinigten
Staaten niemals Fuß fasst und es gar nicht zum Bürgerkrieg kommt, weil die Sklaverei nicht existiert? Also gibt es auch keinen Rassismus, weil es die Erblast der Sklaverei nicht gibt . Martin Luther King wird nie erschossen; die Navajo-Indianer werden nie auf den Pfad der Tränen geschickt, die Invasion in der Schweinebucht findet nicht statt und die USS Maine geht niemals unter ...«
»All das wird passieren und nur wegen Andrea und ihrem Großvater?«, fragte Jonas ungläubig.
»Nein«, sagte Zwei. »Ich bin mir zu 99,9998 Prozent sicher, dass nichts davon wegen Andrea und ihrem Großvater geschehen wird. Aber denk doch mal nach! Wir fangen klein und fast unsichtbar an - mit einem Mädchen und ihrem Großvater auf einer abgelegenen Insel -, und wer weiß, was dann passiert? Vielleicht ist alles andere auch möglich.«
Er strahlte wieder.
Jonas erinnerte sich an etwas, das Katherine gesagt hatte, ganz am Anfang, als sie zum ersten Mal davon hörten, dass er und sein Freund Chip etwas mit Zeitreisen zu tun hatten: Wenn man in der Zeit zurückreisen will, rettet man Abraham Lincoln davor, erschossen zu werden. Oder John F. Kennedy. Oder man verhindert, dass die Titanic untergeht. Oder wendet den 11. September ab. Oder - jetzt weiß ich es - man verübt ein Attentat auf Hitler, bevor er den Zweiten Weltkrieg anfangen kann.
Vielleicht hatte Zwei das mit angehört.
»Dann versuchen Sie also, alternative Dimensionen zu schaffen«, sagte Jonas, stolz, dass er darauf gekom-men war. »In denen es verschiedene Möglichkeiten gibt.«
»Nein«, sagte Zwei. »Es geht nicht um Alternativen. Ihr habt keine alternative Dimension betreten, als Andrea ihren Marker zwang, aus dem Wald zu kommen. Die Zeit selbst veränderte sich. Es gibt nur einen Zeitstrahl und nur eine Geschichte. Das Reisen durch die Zeit lässt es nur nach mehr aussehen.«
»Aber die Marker zeigen den ursprünglichen Verlauf der Geschichte, und dann ist da der Ablauf, also das, was wir sehen, wenn wir in der Zeit zurückreisen ...«, unterbrach ihn Jonas. »Das sind doch schon zwei Varianten.«
»Du irrst dich«, sagte Zwei. »Marker durchleben die Zeit nur einmal, nicht öfter als irgendjemand sonst. Nur war es bisher so, dass sie alles und jeden auf einen scheinbar vorbestimmten Pfad gelotst haben. Den Schicksalsweg, könnte man sagen. Die Marker selbst waren unveränderbar. Bis jetzt.« Obwohl Jonas es nicht für möglich gehalten hätte, wurde Zweis Grinsen noch breiter. »Ihr beide habt soeben die erste Zeitverschiebung der Geschichte miterlebt. Die Entgleisung des Schicksals. Das Ende des Schicksals. Es ist... als wärst du Watson und ich Alexander Graham Bell. Du bist der kleine Junge, der den ersten Flugversuch beobachtet, und ich bin Orville Wright. Du bist eine Eidechse in der Wüste von New Mexico und ich bin Robert Oppenheimer.«