»Ich dachte, er wäre bewusstlos gewesen und hätte sie weder hören noch sehen können, weil Sie ihm ein Betäubungsmittel ins Essen gegeben haben«, sagte Jonas. »Und wegen der Kopfverletzung.«
»Meinst du nicht, dass die Zeit seine Kopfverletzung verursacht haben könnte?«, fragte Zwei.
»Die Zeit ist doch keine Person«, wandte Jonas ein. »Sie kann nicht bewirken, dass sich jemand am Kopf verletzt.«
»Wirklich nicht?«, fragte Zwei.
»Aber -«, sagte Jonas.
»Psst«, unterbrach ihn Katherine. »Streitet euch nachher. Ich versuche zuzuhören.«
Im Kanu räusperte sich John White, sah unglücklich auf seine Hände und dann wieder zu Andrea auf.
»Ich fürchte mich zu fragen«, begann er. »Deine Mutter, meine Eleanor. Und Ananias, dein Vater. Sind sie .«
Andrea schüttelte bereits den Kopf.
»Sie sind von uns gegangen«, sagte sie. »Vor fünf Sommern, als die Krankheit kam.«
John White hatte Tränen in den Augen, trotzdem fuhr er leise fort.
»Und du, Kind? Wer nahm sich deiner an?«
»Der Stamm auf Croatoan ist sehr gütig. Die wenigen, die noch übrig sind«, sagte Andrea. »Sie betrachten mich als eine der Ihren. Wir haben uns ihnen mit entfernten Verwandten angeschlossen.«
»Gütig?«, unterbrach sie Antonio. »Sie haben dich, ein Mädchen, allein auf eine Insel des Bösen geschickt! Das nennst du gütig?«
Andrea runzelte die Stirn.
»Es ist nicht ihre Schuld«, sagte sie. »Die Krankheit ist zurückgekehrt und viele sind wieder geschwächt. Ich habe mich selbst dazu entschlossen, um mit den bösen Geistern Frieden zu schließen. Ich dachte, wenn ich die Toten begrabe und die Gebeine der Tiere, könnte ich zeigen, dass die Menschen von Croatoan ehrbare Leute sind . dass sie es verdient haben, zu leben und nicht zu sterben und allesamt zugrunde zu gehen.«
Ihre Stimme war voller Trauer.
Das frische Grab, durchfuhr es Jonas. Das ist die Erklärung! Es war Andrea - oder vielmehr Virginia Dare. Sie hat die Gebeine der Menschen begraben, die hier vor Jahren an einer Seuche gestorben sind. Vielleicht hat sie alle in ein Grab gelegt oder es gibt noch weitere frische Gräber, die ich nicht gesehen habe.
Katherine wandte den Kopf, um Jonas etwas ins Ohr zu flüstern.
»Hast du auch das Gefühl, als hätten sie komplett vergessen, dass wir hier sind?«, fragte sie. Sie fing an zu winken und zu rufen. »He, Andrea! Kennst du uns noch?«
Im nächsten Moment hielt Zwei ihr den Mund zu.
»Pst! Misch dich nicht ein!«, zischte er, was Jonas schon ein wenig lustig fand, angesichts dessen, was Zwei getan hatte.
Andrea wirkte einen Moment lang irritiert, doch sie sah sich nicht um. Auch Brendan und Antonio blickten nicht auf. John White hingegen sah mit zusammengekniffenen Augen zum Wald.
»Täuschen mich meine Augen und Ohren?«, murmel-te er. »Oder sehe ich dort weitere Traumgestalten, die auf grausige Art lebendig werden?« Er blinzelte. Vielleicht war seine Sehkraft nicht die beste. Sein Blick wanderte zu Andrea zurück. »Vielleicht habe ich mich geirrt und du bist auch nur ein Trugbild? Träume ich und bilde mir nur ein, dass ich nicht mehr schlafe?«
»Ich bin wirklich«, beharrte Andrea. »Du schläfst nicht. Aber leg dich zurück, Großvater, und ruh dich aus.«
Gehorsam legte sich John White wieder hin. Kaum eine Sekunde später, so schien es Jonas, hörte er den alten Mann schnarchen.
Kurz darauf stapfte Andrea zu Jonas, Katherine und Zwei hinüber.
»Mach es nicht kaputt«, befahl sie Katherine. »Wenn mein Großvater irgendetwas hört oder sieht, was er nicht versteht, bringt es ihn völlig durcheinander. Dann muss er wieder schlafen. Und du und Jonas, ihr passt für ihn nicht ins Bild. Ihr -«
»Was? Willst du damit sagen, dass wir hier nicht hingehören?«, fragte Katherine entrüstet. »Nach allem, was wir für dich getan haben? Dir so geholfen haben?«
Ein Ausdruck von Ungeduld huschte über Andreas Gesicht.
»Das ist es nicht«, sagte sie. »Ich bin euch ja dankbar für alles, was ihr getan habt. Aber spürt ihr nicht, wie zerbrechlich das alles ist? Eine falsche Bewegung und die Zeit reißt mich wieder fort. Dann renne ich zum Wald ...«, sie zeigte auf die Bäume und für einen kurzen Moment meinte Jonas den anderen geisterhaften Mar-ker wieder sehen zu können, »... und mein Großvater treibt davon. Für mich unerreichbar.«
»Tatsächlich?«, sagte Zwei, als habe ihm Andrea gerade ein verblüffendes Detail enthüllt. »Du spürst immer noch den Sog des ursprünglichen Markers?«
»Er wird von Minute zu Minute schwächer«, sagte Andrea. »Abertrotzdem ...«
Zwei runzelte die Stirn.
»Dabei war ich mir so sicher«, murmelte er.
Jonas beschloss, dass es an der Zeit war, das Gespräch selbst in die Hand zu nehmen.
»Keine Sorge, Andrea«, sagte er. »Vergiss nicht, dass alles nur vorübergehend ist. Wir werden die Zeit reparieren - was immer das jetzt heißt - und dann kehren wir alle ins einundzwanzigste Jahrhundert zurück, in unser ganz normales Leben.«
Normal hörte sich für Jonas im Augenblick besonders gut an. Selbst die langweiligsten Momente seines Alltagslebens im einundzwanzigsten Jahrhundert erschienen ihm inzwischen schmerzhaft schön. Sich die Zähne zu putzen. Den Kühlschrank aufzumachen und nach einem kleinen Snack Ausschau zu halten. Mit der Fernbedienung durch die Kanäle zu zappen. Darauf zu warten, dass der Computer hochfuhr. In Gemeinschaftskunde zu hocken und das Gefühl zu haben, dass nichts davon eine Rolle spielte - dass alles Geschichte war, tot und vergessen.
»Ach, Jonas«, sagte Andrea und schüttelte traurig den Kopf. Wieder glänzten Tränen in ihren Augen. Aber merkwürdigerweise hatte es diesmal den Anschein, als würde sie gleich seinetwegen weinen. Sie sah ihm tief in die Augen. Genauso, wie sie es sonst bei ihrem Großvater tat. »Du gibst nie auf, was? Ich hoffe nur ...«
Sie brach ab, weil mit Zwei etwas Merkwürdiges vor sich ging. Er gab ein ersticktes »Urgh-« von sich, das klang, als fiele es ihm schwer, zu schlucken.
Nein. Es hatte eher den Anschein, als sei er es, der verschluckt würde.
Im nächsten Augenblick schien er um Jahre zu altern. Sein blondes Haar wirkte mit einem Mal blond und braun zugleich. Sein Gesicht schien sich aufzulösen und in völlig veränderter Form wieder zusammenzufügen.
Dann kippte Zwei vornüber und sah wieder aus wie er selbst. Doch an der Stelle, an der er sich soeben noch befunden hatte, stand nun ein anderer. Jemand, der größer und älter war, mit dunkleren Haaren.
HK.
Feindselig starrte er auf Zwei hinab, der vor ihm auf dem Boden lag.
»Verräter!«, zischte HK.
Dreiundvierzig
Als Nächstes tat HK etwas Überraschendes: Mit einem Arm packte er Katherine, mit dem anderen Jonas und zog beide fest an sich.
»Ich habe mir solche Sorgen um euch gemacht«, murmelte er. »Geht es euch gut?«
Jonas ging auf Abstand, weil er HK zeigen wollte, dass er auf seinen eigenen Füßen stehen konnte.
»Uns geht es gut«, sagte er, konnte aber nicht verhindern hinzuzufügen: »Jetzt, wo du da bist.«
Es war eine solche Erleichterung zu wissen, dass HK das Chaos in Ordnung bringen würde, das Zwei mit der Zeit veranstaltet hatte. Es war eine solche Erleichterung, zu sehen, dass der selbstgefällige Ausdruck auf Zweis Gesicht wie weggewischt war. Er wirkte fast harmlos, wie er da erstarrt im Sand lag.
»Tut mir leid«, sagte Jonas zu HK. »Wir haben uns von ihm manipulieren lassen.«
»Ihr habt getan, was unter diesen Umständen möglich war«, erwiderte HK. »Mehr konnte niemand erwarten.«
Katherine überraschte Jonas damit, dass sie sich von HK freimachte und Zwei gegen die Schulter trat.