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Schon nach den ersten Siedlungsversuchen, die der späteren »Verlorenen Kolonie« vorangingen, wurden zahlreiche Personen vermisst, auf die sich einige der Berichte über Menschen von europäischem Aussehen und Be nehmen an verschiedenen Orten entlang der amerikanischen Atlantikküste bezogen haben könnten. Virginia Dare mag die berühmteste Person sein, die von Roanoke verschwand, aber sie war beileibe nicht die einzige. Im Juni 1586, als Sir Francis Drake den Soldaten auf Roanoke anbot sie mit nach England zurückzunehmen, wurden drei Männer zurückgelassen. Und auch die von einem anderen Schiff wenig später dort abgesetzten Soldaten verschwanden zwischen Sommer 1586 und August 1587 von der Insel.

Die Geschichte von Drakes Rettungsaktion war mir völlig unbekannt und ich war über die Entscheidungen, die er traf, ebenso entsetzt wie Brendan. Um Platz zu schaffen für die englischen Soldaten, ließ Drake tatsächlich mehrere Hundert Sklaven (indianischer wie afrikanischer Herkunft) auf der Insel zurück. Und er hielt dies zweifellos für eine sehr heldenhafte und groß zügige Geste. Die Sklaven verschwanden augenblicklich aus den historischen Aufzeichnungen niemand weiß, wie es ihnen erging. Es ist schwer, sich mit der Geschichte dieser Epoche zu beschäftigen, ohne zutiefst zu erschrecken: über den Umgang mit Sklaven und amerikanischen Ureinwohnern, aber auch darüber, wie mit einfachen (nicht adligen) englischen Menschen umge sprungen wurde. Viele ihrer Geschichten gingen verloren, weil man es nicht für wichtig erachtete, sie festzuhalten. Ich bin überzeugt, dass Zeitreisen uns zahllose faszinierende Menschen, Perspektiven und Ereignisse aufzeigen könnten, die von der Geschichte vollkommen übersehen wurden.

Aber auch ohne Zeitreisen werden geschichtliche Vorgänge ständig neu bewertet. Heute haben die Historiker eine wesentlich bessere Vorstellung davon, welche katastrophalen Auswirkungen es aufdie amerikanische Urbe völkerung hatte, als sie mit europäischen Krankheiten in Berührung kamen. Es ist wahr, dass ganze Dörfer ausstarben, ganze Stämme bis auf eine Hand voll Überlebende ausgelöscht wurden. Auch wenn sich unmöglich ermessen lässt, wie viele Menschen starben, wird in frühen europäischen Berichten über Reisen nach Amerika immer wieder festgehalten, dass die Entdecker bei ihrer ersten Begegnung mit den Ureinwohnern auf Gemeinschaften trafen, in denen es von Menschen nur so wimmelte, während sie, wenn sie ein wei teres Mal zurückkamen, nichts als endlose, verlassene Wildnis vorfanden.

Wäre ich eine Zeitreisende, würde ich unbedingt Impfstoffe in die Vergan genheit schmuggeln wollen.

Da es keine nachprüfbaren Berichte über das Schicksal von Virginia Dare und die anderen Kolonisten von Roanoke gibt, sind in den letzten vierhun dert Jahren zahllose Geschichten, Fabeln und Mythen entstanden. Manch mal werden diese Geschichten sogar als wahr dargestellt: In den späten 1930er Jahren fand man an verschiedenen Stellen in den Bundesstaaten Georgia, North und South Carolina insgesamt achtundvierzig Steine mit Gravuren, die angeblich von Eleanor Dare zurückgelassen wurden, um vom Schicksal ihrer Familie zu berichten. 1941 zog ein Zeitschriftenartikel die Echtheit der Steine in Zweifel und enttarnte sie als ausgebuffte Fälschung. Doch noch 1991 wird in einem Buch mit dem Titel A Witness for Eleanor Dare (»Ein Zeuge für Eleanor Dare«) behauptet, dass die Steine echt waren.

Noch fantasievoller ist die lange poetische Erzählung einer gewissen Sallie Southall Cotton von 1901, in der sie angeblich eine »indianische Fabel« nacherzählte. Darin weist Virginia Dare die Annäherungsversuche eines bösen indianischen Zauberers zurück, der sie aus Rache in ein weißes Reh verwandelt. Ihre wahre Liebe, ein indianischer Krieger, will sie retten, indem er einen verzauberten Pfeil auf sie abschießt. Allerdings stellt ihr auch ein weiterer Rivale nach. Von zwei Pfeilen gleichzeitig getroffen, verwandelt sich Virginia Dare in einen Menschen zurück und stirbt.

Vielleicht würde sich heute niemand mehr an Virginia Dare erinnern oder sich für sie interessieren, wenn wir von Anfang an gewusst hätten, wie ihr Leben verlaufen ist. Vielleicht ist es gerade das Geheimnis, das sie so interes sant macht.

Vielleicht ist aber auch die Wahrheit besser als jede erfundene Geschichte. Wir wissen nur nicht, wie sie aussieht.