„Von dort aus kannst du am besten beobachten, wann dein Morope herunterkommt. Wecke mich rechtzeitig. Mein Tier grast dort drüben. Du paßt auf, daß es nicht fortläuft.“
Temuchin erwartete offenbar keine Antwort, sondern legte sich an einer relativ trockenen Stelle im Windschatten des Felsens nieder und schlief sofort ein. Jason fluchte leise vor sich hin, während er auf den Felsen kletterte, den Temuchin ihm als Beobachtungsplatz zugewiesen hatte. Dort oben blieb er lange im Regen sitzen, bis er endlich schwere Atemzüge über sich hörte und das Morope erkannte. Er glitt zu Boden und weckte Temuchin, der sofort hellwach war.
„Schnell“, befahl Temuchin mit einem Blick auf das Tier, das sich zu bewegen begann. „Es wacht sonst auf.“
Das Morope sank tiefer, und sie versuchten es festzuhalten, aber es entglitt ihnen wieder. Beim nächstenmal sprang Temuchin ihm auf den Rücken; dieses zusätzliche Gewicht genügte, um wenigstens die Vorderbeine des Tieres zu Boden zu bringen. Jason löste das Traggeschirr und sprang zurück, als das Seil wieder nach oben schnellte.
Der Rest des Tages verlief routinemäßig. Jason wußte nun, was zu tun war, und Temuchin nützte die Gelegenheit, um etwas versäumten Schlaf nachzuholen. Jason hätte ihm gern Gesellschaft geleistet, aber er wußte genau, daß er seinen Auftrag erfüllen mußte. Soldaten und Reittiere landeten in regelmäßigen Abständen, und Jason organisierte den Empfang.
Einige Männer bewachten die Tiere, während andere bereitstanden, um Neuankömmlingen beim Aufsetzen zu helfen. Die übrigen schliefen — nur Ahankk nicht, der nach Jasons Meinung die besten Augen hatte und deshalb als Beobachter auf dem Felsen Posten bezogen hatte.
Fünfundzwanzig Männer und vierundzwanzig Moropen waren bereits gelandet, als das Ende kam.
Jason und die Soldaten dösten fast, als Ahankk einen heiseren Schrei ausstieß und nach oben deutete. Jason hob den Kopf und erkannte einen dunklen Schatten, der auf ihn herabzustürzen schien. Das war zum Glück nur eine optische Illusion. Das abgestürzte Morope und etwa fünfzig Meter Seil prallten weit vom Landeplatz entfernt auf.
Temuchin brauchte nicht geweckt zu werden. Er war bereits von Ahankks Schrei aufgewacht. „Versteckt das Seil und schirrt vier Moropen an, die den Kadaver fortziehen“, befahl er seinen Leuten, Dann wandte er sich an Jason. „Dia Wiesel haben mich gewarnt, daß das Seil nach einiger Zeit reißt, ohne daß dieser Zeitpunkt zu bestimmen wäre. Meistens reißt es unter einer schweren Last.“
„Aber manchmal auch, wenn nur ein Mann daran hängt“, fügte Jason hinzu. „Du wärst ein guter Spieler, Temuchin.“
„Ich bin ein guter Spieler“, erklärte Temuchin ihm gelassen.
„Wir haben nur ein Reserveseil, deshalb wird niemand mehr herabgelassen. Das neue Seil ist bereit, wenn wir zurückkommen. Jetzt reiten wir.“
10
„Darf ich fragen, wohin wir unterwegs sind?“ erkundigte Jason sich, als die Kolonne sich langsam in Bewegung setzte und zwischen den Hügeln talwärts ritt.
„Nein“, antwortete Temuchin kurz. Damit war der Fall erledigt.
Sie ritten weiter, überquerten unzählige Wasserläufe, die sich zu Bächen und kleinen Flüssen vereinigten, und drangen in ein Gebiet vor, in dem die ersten verkümmerten Bäume wuchsen. Am Spätnachmittag, als sie die letzten Hügel hinter sich ließen, sah die Landschaft bereits anders aus. Vereinzelte Bäume und Buschgruppen bedeckten die Ebene, und in der Ferne war ein größerer Wald zu erkennen. Temuchin hielt bei diesem Anblick an und hob die Hand.
„Schlaft“, befahl er. „Wir reiten in der Abenddämmerung weiter.“
Jason ließ sich das nicht zweimal sagen; er lag bereits im Gras unter einem Busch, als die anderen noch in den Sätteln hockten. Auch sein Morope war von den ungewohnten Anstrengungen dieses Tages so erschöpft, daß es einschlief, ohne vorher zu grasen.
Der Himmel war bereits dunkel, aber Jason bildete sich ein, eben erst die Augen geschlossen zu haben, als Ahankk ihn wachrüttelte.
Sie ritten hintereinander her; Temuchin an der Spitze der Kolonne, Jason als vorletzter. Ahankk bildete die Nachhut, und Jason wußte nur zu gut, wer hier bewacht wurde. Hier hinten war er gut aufgehoben und konnte nichts anstellen — tat er es doch, würde Ahankk dafür sorgen, daß er nicht lange Gelegenheit dazu hatte. Jason ritt schweigend weiter und versuchte möglichst harmlos zu wirken.
Selbst als sie tiefer in den Wald eindrangen, bewegten sie sich völlig lautlos. Die Moropen schnaubten nicht einmal, Ihr Zaumzeug knarrte nicht, und die Waffen der Männer klirrten erst recht nicht. Ein geisterhafter Zug durchquerte den Wald in Regen und Dunkelheit. Dann ritten Jasons Vordermänner plötzlich langsamer, und er sah, daß sie eine Lichtung erreicht hatten, an deren Rand ein Gebäude stand.
Die Soldaten waren nur noch wenige Meter davon entfernt, als vor ihnen eine Tür geöffnet wurde. Ein Mann erschien darin; er hob sich deutlich von dem beleuchteten Hintergrund ab.
„Fangt ihn — tötet die anderen!“ befahl Temuchin, und die Angreifer stürzten vor.
Jason war nicht weit von der Tür entfernt, aber alle anderen schienen sie vor ihm zu erreichen. Der Mann stieß einen heiseren Schrei aus und wollte die Tür schließen, aber drei Angreifer hielten sie auf und drängten ihn zurück. Diese drei Soldaten warfen sich zu Boden und blieben liegen, bis die Bogenschützen hinter ihnen ihr grausiges Werk vollendet hatten. Als Jason den einzigen großen Raum im Erdgeschoß des Hauses betrat, war der Kampf bereits zu Ende; überall lagen Tote und Sterbende.
Nur ein Mann lebte noch — der Mann, der zuerst auf der Schwelle gestanden hatte. Er war großgewachsen, trug Jacke und Hose aus selbstgewebtem Stoff und setzte sich mit einem langen Stab gegen die Eindringlinge zur Wehr. Ein einziger Pfeil hätte genügt, um ihn zu töten, aber die Barbaren wollten ihn lebend fangen und hatten noch nie mit dieser einfachen Waffe Bekanntschaft gemacht. Einer von ihnen saß bereits auf dem Boden und umklammerte sein linkes Bein; ein zweiter wurde vor Jasons Augen entwaffnet, so daß sein Schwert in die nächste Ecke flog. Der Tiefländer kämpfte mit dem Rücken zur Wand und war deshalb fast unangreifbar.
Jason wußte, wie ihm beizukommen war. Er sah sich um, sah eine Schaufel mit langem Stiel an der Wand stehen und griff danach. Er nahm den Platz des Mannes ein, der eben entwaffnet worden war, benützte die Schaufel wie einen Stab und zwang seinen Gegner dazu, einen Schritt in seine Richtung zu treten. Das genügte bereits.
Ahankk, der mit Jason hereingekommen war, trat von der Seite auf den Mann zu und schlug ihm seine Streitaxt an die Schläfe. Der Farmer sackte bewußtlos zusammen. Jason ließ die Schaufel fallen und griff nach dem Stab; er war fast zwei Meter lang und bestand aus zähem Holz, das an den Enden von Eisenringen zusammengehalten wurde.
„Was ist das?“ fragte Temuchin, der den Ausgang des Kampfes beobachtet hatte. „Dieser Stab ist eine einfache, aber wirkungsvolle Waffe“, erklärte Jason.
„Und du kannst mit ihr umgehen? Ich dachte, du wüßtest nichts über die Tiefländer.“ Temuchins Gesicht blieb ausdruckslos, aber Jason erkannte, daß er sich eine gute Ausrede einfallen lassen mußte, wenn er nicht zu den übrigen Leichen gelegt werden sollte.
„Ich weiß auch nichts von ihnen. Aber ich habe diese Waffe als Kind kennengelernt. Jeder in… meinem Stamm gebraucht sie.“ Er verschwieg allerdings, daß er damit nicht die Pyrraner, sondern die Bewohner seines Heimatdorfs auf Porgorstorsaand meinte. Dort durften nur Adlige und Soldaten Waffen tragen, aber das Volk verließ sich auf den einfachen Stab, der ebenso wirkungsvoll sein konnte.