Viele hundert Männer im Publikum machten sich ebenfalls eine Notiz. Einige hatten sogar kleine Pflockbretter bei sich, auf denen sie das Spiel verfolgen wollten. Sie hatten natürlich den Vorteil, daß sie Variationen und mögliche Fortführungen des Spiels viel anschaulicher durchdenken konnten.
Das Ubara-Gambit gehört zu den bösesten und gnadenlosesten im Repertoire des Spiels. Von Turniermeistern wird es oft gespielt Man kann ihm schwer begegnen, weil es keine klar definierte Gegenwehr gibt; man kann darauf eingehen oder sich zu wehren versuchen. Rot mußte die Hoffnung haben, diesen Angriff im mittleren Teil des Spiels zu neutralisieren; wenn es Rot gelang, um den zwanzigsten Zug den Gleichstand herzustellen, konnte er sich glücklich schätzen. Scormus aus Ar war zwar generell ein vielseitiger und sogar genialer Spieler, doch mit dieser Eröffnung zeigte er sich als besonders erfolgreich; im neunten Jahr des Ubarats von Phanias Thurmus hatte er damit bei den Turischen Turnieren gewonnen, ebenso bei den Wettbewerben von Anango, Helmutsport, Tharna, Tyros und Ko-ro-ba, und das alles im Verlauf der letzten fünf Jahre, außerdem hatte das Gambit ihm bei den letzten Winterspielen am Sardar sowie bei der Stadtmeisterschaft von Ar Erfolg gebracht, die knapp sechs Wochen zurücklag. Als Scormus in Ar den Heimstein seines Gegners eroberte, hatte Marlenus, Ubar dieser Stadt, das Spielbrett mit Gold überschüttet. Viele hielten die Stadtmeisterschaft von Ar für den zweitwichtigsten Kaissatitel auf Gor – nur die Meisterschaft auf dem Jahrmarkt von En’Kara war mehr.
Natürlich war auch Centius aus Cos ein Meister des Ubara-Gambits. Er war sogar so gut darauf eingestellt, sowohl aus der Perspektive des gelben als auch des roten Spielers, daß er jetzt zweifellos auf Patt spielen würde. Aber ich nahm nicht an, daß es ihm gelingen konnte. Die Meisterspieler kennen diese Eröffnung in hundert verschiedenen Variationen auf mehrere Züge im voraus.
»Warum reagiert Centius nicht?« fragte der Mann neben mir.
»Keine. Ahnung«, antwortete ich.
»Vielleicht will er aufgeben.«
»Jemand hat gesagt, Scormus würde die Eröffnung mit den beiden Tarnkämpfern wählen«, meinte ein anderer Mann.
»Dazu ist Centius aber zu stark«, meinte ein dritter.
»Er geht kein Risiko ein«, urteilte ein vierter.
Meine Überlegungen bewegten sich in ähnlichen Bahnen. Scormus aus Ar war kein Dummkopf; er wußte, daß er einen Meister vor sich hatte, einen der sieben oder acht besten Spieler auf dem Planeten. Centius aus Cos hatte seine beste Zeit zweifellos hinter sich. In den letzten Jahren hatten seine Spiele weniger wie Kämpfe ausgesehen, weniger wie zielstrebig geführte, brutale Duelle. Vielmehr schien darin ein vages Bemühen zum Ausdruck zu kommen, auf dem Kaissabrett etwas zu erreichen, aber selbst die höchsten Mitglieder der Spielerkaste wußten nicht genau, was es war. Es gab sogar Spieler auf Gor, die höher eingeschätzt wurden als Centius aus Cos, doch irgendwie führte für Scormus aus Ar kein Weg an diesem Mann vorbei, wenn er an die Spitze wollte. Für viele war Centius aus Cos trotz seiner Siege oder Niederlagen oder Pattspiele der beste Kaissaspieler aller Zeiten. Und vor diesem strahlenden Ruf war Scormus’ Stern doch ein wenig verblaßt. »Ich werde ihn vernichten«, hatte Scormus gesagt. Trotzdem würde er mit Vorsicht spielen. Daß er das Ubara-Gambit gewählt hatte, zeigte den Respekt, den er vor Centius aus Cos empfand, und die Ernsthaftigkeit, mit dem er dieses Spiel anging.
Scormus würde wie ein Attentäter spielen. Er würde gnadenlos agieren und kein Risiko eingehen.
Centius aus Cos betrachtete das Spielfeld. Er schien in Gedanken versunken, als beschäftige ihn irgend etwas, das gar nichts mit dem Spiel zu tun hatte. Er hatte die rechte Hand über seinen Ubara-Speerträger gehoben, sie dann aber wieder zurückgezogen.
»Warum zieht er nicht?« fragte jemand.
Die angemessene Reaktion bestand darin, den eigenen Ubara-Speerträger auf Ubara fünf zu ziehen. Damit ist der Kampf um die Mitte des Spielfeldes eröffnet, und der gegnerische Speerträger kann nicht weiter vorrücken. Daraufhin rückt Gelb seinen Ubaras Tarnkämpfer Speerträger auf Ubara-Tarnkämpfer fünf und greift damit den roten Speerträger an. Danach muß sich Rot entscheiden, ob er das Gambit akzeptiert oder abwehrt – er akzeptiert, indem er den Ubaras Tarnkämpfer Speerträger schlägt, damit aber die Mitte freigibt; oder die Eröffnung abwehrt, indem er seinen Speerträger verteidigt und auf diese Weise einengen läßt. Das Gambit läßt sich auf beide Arten spielen, doch ohne Hoffnung, den eingeschlossenen Speerträger noch zum eigenen Vorteil einsetzen zu können. Wir wünschten uns, Centius möge seinen Ubara-Speerträger auf Ubara fünf vorrücken, damit Scormus den Ubaras Tarnkämpfer Speerträger auf Ubara-Tarnkämpfer fünf ziehen konnte. Und dann wollten wir sehen, wie Centius auf das Gambit reagierte.
»Weiß er nicht, daß seine Uhr offen ist?« fragte ein Mann.
Es schien mir seltsam, daß Centius in dieser Phase des Spiels nicht schneller reagierte. Wahrscheinlich brauchte er die Zeit; später viel dringender, wenn er sich im mittleren Teil des Spiels: der Angriffe und Kombinationen Scormus’ erwehren mußte oder in der Schlußphase, wenn der Ausgang vielleicht von einem einzigen raffinierten Zug auf einem von Spielsteinen beinahe freien Feld abhing.
Aus Centius’ Uhr strömte der Sand.
Hätte Centius seinen Ubaras Speerträger berührt, hätte er die Figur ziehen müssen. Und hatte er die Figur bewegt und losgelassen, mußte er sie dort stehenlassen – vorausgesetzt, der Zug paßte zu den Regeln des Spiels. Aber Centius aus Cos hatte den Ubaras Speerträger noch nicht berührt.
Eine Zeitlang musterte er das Spielbrett und bewegte dann einen Stein, ohne Scormus anzusehen.
Ich sah einen der Registraturen aufstehen. Scormus aus Ar musterte seinen Gegner. Die beiden jungen Männer, die bereits die Scheibe des Ubaras Speerträgers zur Hand genommen hatten, sahen sich verwirrt an. Dann legten sie die Plakette fort.
Centius aus Cos drehte den Knopf an seiner Uhr, womit er das Ventil in Scormus’ Uhr öffnete.
Auf der großen Tafel wurde nicht der Ubaras Speerträger gezogen, sondern der Ubaras Speerträger auf Ubar fünf.
Diese Figur konnte nun vom gelben Ubaras Speerträger geschlagen werden.
Lähmendes Schweigen herrschte in der Arena.
»Will er gegen einen Mann wie Scormus die Mittelverteidigung spielen?« fragte jemand.
Das kam mir unglaublich vor. Ein Kind konnte die Mittelverteidigung einrennen. Seit Jahrhunderten waren die Schwächen dieser Taktik bekannt.
Mit der Mittelverteidigung soll der gelbe Speerträger aus der Mitte gelockt werden. Gelb kann den Angriff natürlich ignorieren und tiefer in das Gebiet der Roten eindringen. Andererseits läßt sich Gelb oft darauf ein, seitlich zuzuschlagen und den roten Speerträger zu schlagen. Daraufhin greift Rot mit seinem Ubar an. Leider wird dadurch der Ubar, eine sehr wertvolle Figur, die wie die Ubara mit neun Punkte bewertet wird, zu früh in die Mitte gezogen. Gelb rückt nun den Ubaras Tharlarionreiter vor, womit der vorgerückte Ubar dem Angriff des Wissenden auf Wissenden eins ausgesetzt ist. Der Ubar muß zurückweichen und verliert Zeit. Inzwischen hält sich der gelbe Wissende zum Angriff bereit. Außerdem hat der Zug, der zum Schlagen des roten Speerträgers führte, den Weg für die gelbe Ubara freigemacht.
Nein, die Mittelverteidigung ist wirklich nicht zu empfehlen. Aber Centius aus Cos spielte sie.
Ich fand dies interessant. Zuweilen geschieht es, daß ein Meister aus alten, vernachlässigten Eröffnungen neue Variationen entwickelt. Alte Bergwerke bringen manchmal neues Gold hervor. So etwas belebt das Spiel. Oft genug sind Meisterspiele kaum mehr als Routine, besonders in den ersten zwanzig Zügen. Das liegt natürlich an der unglaublich detaillierten Analyse, denen alle Eröffnungen unterworfen worden sind. Auf eine Weise beginnen solche Spiele mit dem zwanzigsten Zug erst richtig.