Mir wurde warm.
Angestrengt starrte ich auf die große Tafel, und meine Befürchtung bewahrheitete sich. Mit dem siebenten Zug schob Centius aus Cos seinen Tharlarionreiter auf Ubaras Hausbauer drei. Dies bereitete den Zug Hausbauer auf Hausbauer zwei vor und mit dem dritten Zug die Plazierung des Heimsteins auf Hausbauer eins.
Es wurde plötzlich still im Amphitheater, Das Publikum begann zu erkennen, was da unten vorging. Besorgte Blicke suchten die Anzeigetafel ab.
Wenn Scormus seinen Heimstein auf Ubars Hausbauer eins oder Ubaras Hausbauer eins plazieren wollte, brauchte er dazu drei Züge. Ebenso, wenn er die Positionen Ubars Wissender eins, Ubaras Schriftgelehrter eins, Ubaras Hausbauer eins oder Ubaras Wissender eins im Auge hatte. Natürlich konnte er den Heimstein in zwei Zügen unterbringen, wenn er ihn für Ubars Tarnkämpfer eins oder Ubars Schriftgelehrten eins, Ubar eins, Ubara eins oder Ubaras Tarnkämpfer eins vorgesehen hatte. Aber diese ihm offenstehenden Zweistufenplazierungen brachten den Heimstein zu sehr in die Mitte, wo er zu ungeschützt war. Es waren keine guten Plazierungen.
Centius aus Cos hatte zwar die roten Steine, doch machte er bereits Anstalten, seinen Heimstein zu plazieren.
Mit dem achten Zug nahm Scormus aus Ar zornig seinen Tharlarionreiter auf Hausbauer drei. Den Angriff mußte er vorübergehend aufschieben.
Mit seinem achten Zug ließ Centius aus Cos seinen Ubaras Hausbauer auf Hausbauer zwei vorrücken und machte Hausbauer eins damit frei für seinen Heimstein.
Mit seinem neunten Zug folgte Scormus aus Ar seinem Beispiel und nahm seinen Ubaras Hausbauer auf Hausbauer zwei, um Hausbauer eins für die Plazierung des Heimsteins mit dem zehnten Zug freizumachen,
Centius aus Cos legte seinen Heimstein auf seinen Ubaras Hausbauer eins. Er tat dies mit dem neunten Zug. Eigentlich hätte er dazu bis zum zehnten Zug Zeit gehabt; diesen zehnten Zug hatte er jetzt frei.
Scormus aus Ar, der trotz seines natürlichen Gelbvorteils einen Zug zurück lag, setzte seinen Heimstein auf Hausbauer eins.
Die beiden Heimsteine lagen sich gegenüber, jeder von mehreren schützenden Figuren umgeben, von Schriftgelehrten und Wissenden, von einem der mittleren Speerträger, einem flankierenden Speerträger, einem Hausbauer, einem Arzt und einem Tharlarionreiter.
Scormus konnte seinen Angriff jetzt fortsetzen.
»Nein!« schrie ich plötzlich auf. »Seht doch!« Ich sprang auf. Tränen stiegen mir in die Augen. »Seht doch!«
Der Mann neben mir sah es ebenfalls, dann ein dritter und vierter. Männer aus Cos fielen sich in die Arme. Selbst Bürger aus Ar schrien vor Freude auf.
Der rote Ubars Wissende beherrschte die Ubars Wissende-Diagonale des Ubars Wissenden; die rote Ubara beherrschte die Diagonale des Ubars Arzt; der rote Ubar gebot über die Diagonale des Ubars Hausbauer; der Ubars Schriftgelehrte kontrollierte die Diagonale des Ubars Schriftgelehrten. Rot beherrschte nicht nur eine, sondern vier benachbarte Diagonalen, unverstellte Diagonalen, die jeweils auf die Zitadelle des gelben Heimsteins gerichtet waren. Die rote Ubara bedrohte den Ubaras Schriftgelehrten Speerträger auf Ubaras Schriftgelehrten zwei; der Wissende bedrohte den Ubaras Hausbauer auf Hausbauer zwei, unmittelbar vor dem gelben Heimstein stehend; der Ubar bedrohte den Tharlarionreiter auf Hausbauer drei, der Schriftgelehrte hatte den flankierenden Ubaras Speerträger auf Ubaras Wissender drei im Visier. Nie zuvor hatte ich gesehen, daß eine solche Angriffsmacht auf so subtile Weise formiert wurde. Dieser Angriff wurde natürlich nicht auf der Seite des Ubars vorgetragen, sondern auf der Ubaraseite, wo Scormus seinen Heimstein plaziert hatte. Züge, die die Position des roten Spielers zu schwächen schienen, hatten in Wahrheit zu einem unglaublichen Vorsprung in der Entwicklung geführt; Züge, die den Zuschauern sinnlos und defensiv erscheinen mußten, waren in Wirklichkeit von äußerster Tücke gewesen. Die schüchterne Finte des roten Spielers mit Ubara und Ubar hatte die Falle vorbereitet, in die Scormus seinen Heimstein legen mußte.
Mit dem zehnten Zug schob Centius aus Cos seinen Tharlarionreiter, der auf Hausbauer drei gestanden hatte, auf Hausbauer vier. Dies machte den Weg frei für den Hausbauer-Stein, dessen Macht, zusammen mit der Kampfkraft des Ubars, auf den gelben Tharlarionreiter gerichtet wurde. Der Angriff hatte begonnen.
Ich werde darauf verzichten, die nachfolgenden Züge im Detail zu beschreiben. Es waren insgesamt elf.
Als Scormus mit seinem zweiundzwanzigsten Zug an der Reihe war, erhob er sich wortlos. Einen Augenblick lang blieb er neben dem Spielbrett stehen, dann legte er mit einem Finger vorsichtig seinen Ubar um. Dann legte er die Uhren um, was den Sandstrom stoppte, machte kehrt und verließ die Bühne.
Einen Augenblick lang herrschte Stille in der Menschenmenge, dann brach die Hölle aus. Männer sprangen sich gegenseitig an, Kissen und Mützen wirbelten durch die Luft. Das gewaltige Rund des Amphitheaters dröhnte vor Gebrüll. Ich konnte kaum noch meine eigene Stimme hören. Zwei Männer fielen hinter mir von ihrer Sitzreihe. In dem Bemühen, die Bühne zu sehen, kletterte ich auf die Verstrebung, wurde aber von links und rechts energisch angestoßen.
Einer der Männer aus der Gruppe, die mit Centius aus Cos angereist war, stand auf dem Spieltisch mitten auf der Bühne, den selben Heimstein in der Hand. Er hob ihn vor der Menge hoch. Gestalten schwärmten über die Bühne; die Wächter konnten dem Druck nicht mehr standhalten. Centius aus Cos wurde von zahlreichen Männern auf die Schultern gehoben. Er schwenkte die Arme, und seine weiten Robenärmel rutschten bis zu den Schultern hoch. Standarten und Wimpel aus Cos erschienen wie aus dem Nichts. Sicher setzte sich das Jubelgeschrei auch außerhalb des Amphitheaters fort, aber es war nicht zu hören. Später wurde berichtet, das ganze Sardargebirge habe vor Lärm gebebt.
»Cos! Cos! Cos!« hörte ich immer wieder, in einem Rhythmus wie mächtiger Trommelschlag, wie Brandungswellen, die sich dröhnend an einer Felsenküste brachen.
Ich mußte aufpassen, nicht von meinem Geländer gestoßen zu werden.
Aus der großen Tafel wurden Stücke herausgebrochen. Centius aus Cos hatte einen seiner Ärmel an die Menge verloren.
»Centius!« brüllten die Männer. »Centius!« Soldaten aus Cos hoben immer wieder ihre Speere, »Centius! Cos!« brüllend.
Der silbrige Haarschopf Centius’ wippte zerstrubbelt über der Menschenmenge. Er streckte dem Mann auf dem Spieltisch Hände entgegen; dieser drückte ihm den gelben Heimstein die Hand. Das Jubelgeschrei wurde noch lauter.
Reginald aus Ti versuchte die Massen zu beruhigen, sah aber schnell ein, daß das absolut sinnlos war. Die Wogen der Emotionen mußten sich von allein beruhigen.
Centius aus Cos hielt den gelben Heimstein in der Hand. sah sich auf der Bühne um, als suche er jemanden, doch ihn umgab lediglich die Menge, die dichtgedrängt hin und her wogte und ihre Erregung hinausschrie: »Cos! Centius! Cos!«
Ich hatte vierzehnhundert Gold-Tarn verloren. Dieser Verlust bekümmerte mich aber nicht im geringsten. Wer würde nicht ein Dutzend solcher Verluste auf sich nehmen, um ein solches Spiel zu sehen!
»Centius! Cos! Centius! Cos!«
Ich hatte mit eigenen Augen Centius aus Cos gegen Scormus aus Ar spielen und gewinnen sehen.
Der strahlende Sieger wurde auf Schultern von der Bühne getragen. Das Amphitheater begann sich schließlich zu leeren, aber nur langsam. Ich arbeitete mich zu einem Ausgang vor. Hinter mir ertönte aus Hunderten von Kehlen die Hymne von Cos. Ich war sehr zufrieden mit meinem Besuch am Sardargebirge,
An diesem Abend wurde über wenig anderes gesprochen als über das große Spiel.
»Es war ein unschönes, grausames Spiel«, sollte Centius aus Cos dazu gesagt haben.
Wie konnte er sich nur so über das Meisterstück äußern, das wir verfolgt hatten? Es gehört zu den genialen Höhepunkten in der Geschichte des Kaissa.