Die fünf Sleen hielten inne, hingeduckt, mit zuckenden Schwänzen, die Köpfe gesenkt, die funkelnden Augen auf ihre Beute gerichtet. Sie waren noch etwa fünfzig Meter von dem Mädchen entfernt. Die Nüstern waren weit geöffnet, die Ohren flach an die Köpfe gelegt. Ein Tier ließ hechelnd die Zunge vorund zurückschnellen.
Die Sleen krochen vorwärts. Sie wollten ihre Fährte nicht mehr verlieren.
Das Mädchen warf sich unter den Tarn. Sie kniete im Gras.
»Nimm mich mit!« flehte sie, zu Ram aufblickend.
»Für freie Frauen haben wir hier keinen Platz«, sagte Ram.
»Aber ich bin Sklavin! Tief im Herzen habe ich immer gewußt, daß ich eine Sklavin bin. Mach mich zu deiner Sklavin!«
»Aber vielleicht will ich das gar nicht.«
»Ich flehe darum, deine Sklavin zu sein, Herr!« rief sie.
»Ah, das klingt schon anders!«
Die Sleen griffen an. Ram hielt sich mit der linken Hand am Tarngeschirr fest und packte das Mädchen mit der rechten am Arm. Der Tarn, angetrieben von dem Zug am ersten Zügel, fuhr hoch und breitete die mächtigen Flügel aus. Mit gewaltigen Schlägen stieg er in die Luft. Das Mädchen schrie auf; es baumelte hilflos im Griff des Mannes. Sie, die bis jetzt die Dame Tina aus Lydius gewesen war, ruhte sicher in den Armen Rams, ihres Herrn. Er durchschnitt ihre Handfesseln, damit sie sich an ihm festhalten konnte. Mit dem Messer löste er außerdem die Stoffetzen von ihrer Hüfte, und wir sahen, wie sie zwischen die zornigen Sleen fielen, die den Stoff noch mehr zerrissen.
»Sieht so aus, als hätten wir eine neue Sklavin«, sagte Constance.
Das Mädchen, das die Dame Tina gewesen war, musterte sie angstvoll.
»Ja«, sagte ich und nahm Kurs auf Lydius.
7
Ich trat gegen die Tür, die unter meinem Fuß zersplitterte. Mit gezogenem Schwert hechtete ich über die Schwelle.
Der Mann am Tisch sprang auf.
»Wo ist Bertram aus Lydius?« fragte ich.
»Ich bin das«, sagte der Mann in der Felljacke. »Was willst du? Bist du ein Attentäter? Du trägst keinen Dolch. Was habe ich getan?«
Ich lachte. »Du bist nicht der Mann, den ich suche«, sagte ich. »Der hat im Süden einen Anschlag auf mich verübt und gab sich als Sleentrainer aus. Er trat unter deinem Namen auf, und ich dachte, es wäre vielleicht sein richtiger Name.«
»Ich kenne dich nicht«, sagte der Mann.
»Ich dich auch nicht.«
Ich beschrieb ihm den Mann, der sich Bertram aus Lydius genannt hatte. Aber er konnte ihn nicht für mich identifizieren. Ich fragte mich, wie er in Wahrheit heißen mochte.
»Dein Ruf als Sleentrainer ist ausgezeichnet«, sagte ich. »Er ist sogar im Süden bekannt. Sonst hätte ich den Mann kaum in mein Haus genommen.«
»Es freut mich zu hören, daß ich nicht der Gesuchte bin«, sagte Bertram aus Lydius. »Der Mann kann mir leid tun.«
»Der Mann, den ich suche, kann mit dem Messer umgehen«, meinte ich. »Vermutlich gehört er zu den Attentätern.«
Ich warf eine Tarskscheibe auf den Tisch. »Du wirst deine Tür reparieren müssen«, sagte ich.
Dann machte ich kehrt und verließ das Haus. Ich hatte nicht angenommen, daß der Sleentrainer, der in meinem Haus gewohnt und den ich im Zelt des Andenkenhändlers gesehen hatte, wirklich Bertram aus Lydius gewesen war, aber ich hatte mir Gewißheit verschaffen wollen. Außerdem hatte ich gehofft, daß er den Mann kannte. Man kann leichter in die Identität eines anderen schlüpfen, wenn man ihn einigermaßen kennt. Ich hoffte den Burschen eines Tages wiederzusehen. Zwischen den Kasten der Krieger und der Attentäter herrscht eine gesunde Rivalität. Beide halten sich für besser als die andere. Im allgemeinen ist das Schwert des Kriegers einem Heimstein verpflichtet, während die Attentäter auf das Gold hören.
Ich schlenderte durch die Straßen von Lydius, bis ich eine kleine Schmiede an einer Hauptstraße erreichte.
»Weinst du immer noch?« fragte ich Constance, die im Stroh neben dem Amboß hockte und ihr frisches Brandzeichen betrachtete.
»Es tut weh, Herr«, sagte sie.
»Dann weine.«
»So, Herr«, sagte der Schmied und löste den schweren Metallkragen von Rams Hals.
»Ah«, sagte Ram erleichtert.
Neben ihm kniete Tina – Tina war ihr Sklavenname.
»Wie hat sie auf das Eisen reagiert?« fragte ich.
»Sie hat wie ein Sleen geschrien, aber inzwischen ist sie wieder ruhig.«
»Die Brandzeichen sind ausgezeichnet«, sagte ich, »Alle beide.« Ich warf dem Schmied einen Silbertarsk zu.
»Vielen Dank, Krieger!« rief er.
Ram ließ seinen Halskragen enger machen und Tina anpassen, während ich Anweisung gab, Constance von der Kette um ihren Hals zu befreien. Beiden Mädchen warf ich je eine leichte Reptuch-Tunika zu, die ich in der Stadt erstanden hatte. Dankbar bedeckten sie damit ihre Blöße.
»Gehen wir in die Taverne des Sarpedon«, sagte ich. »Ein ordentliches Lokal.« Ich war vor einigen Jahren dort gewesen und hatte ein Serviermädchen namens Tana kennengelernt. Ihren Herrn Sarpedon hatte ich über ihre Tanzkenntnisse informiert. An jenem Abend hatte sie für die Gäste getanzt, doch ich hatte etwas zu erledigen gehabt.
Nach knapp einer Viertel-Ahn hatten wir Sarpedons Taverne erreicht. Meine Laune hatte sich allerdings sehr verschlechtert. An vielen Stellen hatten wir auf den Kaimauern Fellballen gesehen. Sie enthielten Felle des Nord-Tabuks.
»Ich muß Lydius heute abend noch verlassen«, sagte ich. »Hier geht etwas vor, das ich nicht begreife. Ich muß mich darum kümmern.«
»Ich begleite dich«, sagte Ram.
»Ich bin Tarnkämpfer«, wandte ich ein. »Es ist besser, wenn du zurückbleibst.«
»Die Zügel eines Tarn sind mir nicht fremd.«
»Du bist Tarnkämpfer?«
»Ich habe schon viele Dinge getan. In Hunjer habe ich bei Tarnzüchtern gearbeitet.«
»Kannst du mit dem Speer, dem Bogen, dem Schwert umgehen?«
»Ich bin kein Angehöriger der Kriegerkaste«, sagte er achselzuckend.
»Dann bleib hier.«
»Was wünschen die Herren?« fragte der Wirt, ein rundlicher Mann mit einer Lederschürze.
Ram und ich saßen an einem der kleinen Tische. Die Mädchen knieten neben uns.
»Wo ist Sarpedon?« fragte ich.
»Er macht einen Besuch in Ar«, antwortete der andere. »Ich bin Sarpelius und führe die Schänke während seiner Abwesenheit.« Sein Blick fiel auf die Mädchen. »Wunderschön! Ob die Herren sie mir verkaufen? Ich brauche immer neue Mädchen für die Nischen.«
»Nein«, sagte ich.
Die beiden Mädchen atmeten sichtlich auf.
»Am Hafen liegen viele Ballen Felle«, sagte ich.
»Sie kommen aus dem Norden und aus Kassau.«
»Ist die Herde von Tancred dieses Jahr aus den Wäldern gekommen?« wollte ich wissen.
»Ja«, sagte der Mann. »Ich habe davon erzählen hören.«
»Aber sie hat den Axtgletscher noch nicht überquert!«
»Davon weiß ich nichts.«
»Auf den Kaimauern liegen Tausende von Fellen.«
»Von den Herden des Nordens.«
»Sind aus dem Norden Händler angereist?«
»Nur wenige.«
»Ist es üblich, daß im Frühling so viele Felle angeliefert werden?« Normalerweise ziehen die Felljäger den Herbst-Tabuk vor, dessen Fell viel dichter ist.
»Keine Ahnung«, sagte der Mann und blickte uns lächelnd an. »Ich bin neu in Lydius. Darf ich jetzt etwas auftragen, meine Herren?«
»Wir lassen uns von unseren Mädchen bedienen«, sagte Ram. »Wir schicken sie gleich zu dir.«
»Wie die Herren wollen«, sagte Sarpelius strahlend, machte kehrt und ging.
»In solchen Mengen hat es in Lydius noch keine Felle gegeben«, sagte Ram zu mir, »weder im Frühling, noch im Herbst.«
»Vielleicht stammen sie von der Herde von Tancred«, sagte ich.
»Es gibt aber auch andere Herden.«
»Richtig.« Trotzdem war ich ratlos. Wenn die Herde von Tancred wirklich aus den Wäldern herausgekommen war, warum hatte sie dann den Axtgletscher noch nicht überquert? Es war undenkbar, daß Jäger, wie groß ihre Zahl auch sein mochte, den Ansturm einer solchen Herde, die mindestens zwei- bis dreihunderttausend Tiere umfaßte, bremsen konnten. Es handelte sich um eine der größten Tabuk-Wanderherden auf dem ganzen Planeten. Zum Pech für die rothäutigen Jäger war es auch die einzige, die den Axtgletscher überquerte, um den Sommer in der Polarniederung zu verbringen. Eine solche Herde von ihrem Wanderziel abzubringen, würde weniger einfach sein als eine Flut einzudämmen. Doch wenn die Berichte stimmten, war das Eis des Axtgletschers in diesem Jahr noch nicht unter ihrem Hufschlag erklungen.