»Na, der kommt wenigstens durch«, sagte einer der Männer.
»Ach was, der Tod ist ihm sicher«, sagte ein anderer.
Imnaks Flucht enttäuschte mich. Ich hatte angenommen, daß er aus härterem Holz geschnitzt wäre.
»Schnell, Jungs!« drängte ich. »Beeilt euch!«
Ein zweiter Pfahl wurde aus dem Boden gezogen, angehoben von Brechstangen und vielen Händen.
Die Alarmglocken bimmelten laut; ihr Klang vibrierte durch die klare kalte Luft von Torvaldsland.
»Beeilung, Jungs!« rief ich.
»Ihr auch!« wandte ich mich an die drei Wächter, die wieder zu Bewußtsein gekommen waren. »Wenn ihr gut arbeitet, kommt ihr vielleicht mit dem Leben davon.«
Widerstrebend beteiligten sie sich ebenfalls an der Aktion um zerrten Balken aus dem steinharten Boden.
Plötzlich drängte sich ein riesiger Tabuk durch die Öffnung und schob etliche Männer zur Seite.
»Schnell!« rief ich. »Weitermachen!«
»Wir werden umkommen!« rief der Erste Wächter. »Ihr kennt diese Ungeheuer nicht!«
»Wächter kommen!« rief ein Mann.
Vierzig oder fünfzig Wächter liefen auf uns zu; sie hatten die Waffen gehoben.
»Ergebt euch!« sagte der Erste Wächter.
»Arbeite!« forderte ich ihn warnend auf.
Er merkte, daß ich bereit war, an ihm ein Exempel zu statuieren. Da griff auch er zu, so kräftig er konnte.
»Ich ergebe mich! Ich ergebe mich!« rief ein Mann und lief auf die Wächter zu. Wir sahen, wie er brutal niedergemacht wurde.
Ich griff nach dem Speer, den man mir vor einiger Zeit in die Hand gedrückt hatte. Ich schleuderte ihn in die Gruppe der Wächter, die noch etwa fünfzig Meter entfernt war. Ein Mann sank zu Boden. Der Speer ragte ihm aus der Brust.
Abrupt blieben die Wächter stehen. Sie hatten keine Schilde. Ich hob den zweiten Speer.
»Arbeitet!« rief ich den Männern hinter mir zu.
»Hau-ruck!« rief Ram.
Zwei weitere Tabuk drängten sich durch die Lücke in der Mauer. Das war nicht genug. Die Tiere wußten nicht, daß die Mauer offenstand. Vier weitere Tabuk trotteten an der Öffnung vorbei, als witterten sie einen Weg in die Freiheit. So ging es nicht.
Ich bedrohte die Wächter mit dem Speer. Sie schwärmten aus, was ein kluger Schachzug war, und rückten vorsichtig näher.
Ein weiterer Balken wurde zur Seite gerollt, und zwei Tabuk drängten auf unsere Seite der Mauer.
»Tötet ihn!« hörte ich den Anführer der Wächter befehlen.
Es kamen nicht genügend Tabuk durch! Die Wächter rückten immer näher.
Hinter der Mauer gellte eine Stimme auf. »Aja! Aja! Beeilt eich, meine Brüder! Aja!«
Die Männer, die an der Zerstörung der Mauer arbeiteten, beginnen zu jubeln.
Plötzlich galoppierten vierzig oder fünfzig Tabuk an mir vorbei, so schnell, daß ich sie nur als braunen Schimmer wahrnahm. Sie wurden von einem prächtigen Tier angeführt, einem riesigen Stier, mindestens vierzehn Hand Schulterhöhe mit einem gedrechselt aussehenden Elfenbeinhorn von gut einem Meter Länge. Es war der Leitstier der Herde von Tancred.
»Aja!« tönte es hinter den Tieren.
Plötzlich schien ein Damm gebrochen zu sein. Ich warf mich rücklings gegen die Balken. Die Wächter gaben ihre Position auf und flohen.
Wie eine wogende Hut, wie eine dröhnende und braune Lawine, nur verschwommen sichtbar, schnaubend, Köpfe und Körper hochschnellend, so hasteten die Tabuk an mir vorbei. Auf einem kleinen seitlichen Hügel sah ich den Anführer stehen, stampfend und schnaubend, den Kopf hochwerfend. Er beobachtete die an ihm vorbeiströmenden Tabuk und galoppierte dann an die Spitze der Herde. Weitere Tabuk, ein gut sechzig Fuß breiter Strom, donnerten an mir vorbei. Ich hörte Holz brechen, ich sah weitere Teile der Mauer einstürzen, ganze Balkengruppen, die auf dem Rücken der galoppierenden Tabuk ein Stück mitgenommen wurden, mitgerissen, mitschwimmend in diesem bräunlichen, unaufhaltsamen Fluß aus Leder und Horn, der sich nach Norden richtete. Weitere Stämme brachen, und ich wich zu meiner Linken aus. Nach wenigen Minuten war der Tabukstrom mehr als zweihundert Meter breit. Der Boden erzitterte unter den Hufen. In dem Staub vermochte ich kaum noch etwas zu erkennen, geschweige denn frei zu atmen.
Ich spürte nur, daß Imnak grinsend neben mir auftauchte. Wir hatten es geschafft.
11
Ich band ihr die Handgelenke zusammen. Meine Männer jubelten.
Wie erwartet, war es kaum zu kämpferischen Zusammenstößen gekommen.
Kaum war die Mauer eingerissen, da hatte sich der Attentäter Drusus mit mehreren seiner Männer aus dem Staub gemacht. Einige andere Wächter hatten ebenfalls die Beherrschung verloren und waren mit Vorräten in den Süden geflohen. Ohne die Mauer sahen sie ihren Auftrag als erledigt an. Sie wollten nicht zurückbleiben und sterben.
Mit den Wächtern und Arbeitsgruppen östlich der Bresche in der Mauer hatten wir kaum Schwierigkeiten. Kein Problem war es gewesen, die Uniformen der Wächter anzuziehen und so zu tun, als brächten wir eine neue Kette von Männern nach Osten. Natürlich waren die Männer an der Kette nicht wirklich gefesselt bis auf die Gefangenen an den Enden, bei denen es sich um ehemalige Wächter handelte, die jetzt die Lumpen von Arbeitern trugen. Ich war Schwertkämpfer, und auch Ram erwies sich als geübt im Umgang mit der Klinge. Die Männer, die sich plötzlich unseren Waffen gegenübersahen und der Mehrzahl der angeblichen Arbeiter, die ihre Ketten abwarfen und sie einkreisten, leisteten kaum Widerstand. Bald trugen sie wie ihre Kollegen Arbeiterlumpen und Handschellen. Am Ostende der Mauer überraschten wir mit einer ähnlichen List das Lager der Jäger. Einige Männer entwischten uns; sie galoppierten sofort nach Süden los, doch andere konnten wir gefangennehmen und in Ketten legen. Außerdem erbeuteten wir mehrere Langbögen und etliche hundert Pfeile. Die Bögen gab ich an meine Männer weiter, die dem Bauernstand angehörten; sie konnten damit umgehen.
Am Ende der Mauer brach Imnak beim Anblick der getöteten Tabuk in Tränen aus. Fell und Haut des Tabuk liefert dem Jäger aus dem Norden nicht nur Kleidung, sondern auch das Rohmaterial für Decken, Schlafsäcke und andere Gebrauchsgegenstände. Das Leder läßt sich zu Geschirren für den Schnee-Sleen und die rothäutigen weiblichen Haustiere verarbeiten. Außerdem zu Eimern und Zelten und Kajaks, den leichten und schmalen Lederkanus der Jäger, mit denen sie sich an Meeres-Säugetiere anpirschen. Schnüre, Harpunentaue und Nähgarn lassen sich aus den Sehnen des Tabuk herstellen. Knochen und Horn des Tieres werden Pfeilspitzen, Nadeln, Fingerhüte, Spachtel, Keile und Messer geformt. Fett und Knochenmark lassen sich als Brennstoff verwenden. Darüber hinaus ist beinahe das gesamte Tier eßbar.
Jards kreisten zu Millionen über den Kadavern wie riesige Fliegen. Sie flatterten unwirsch auf, wenn Imnak an ihnen vorbeiging, ließen sich aber nur kurz bei ihrer Mahlzeit stören.
Er schaute über die zahlreichen Kadaver hin. Nur jeder zehnte war abgehäutet worden. Alles andere blieb völlig unverwertet, vom Fleisch über die Sehnen, bis zu den Knochen. Den Jägern war es auch nicht darauf angekommen, die Herde von Tancred voll zu nutzen. Sie hatten sie vernichten wollen.
Mit einem Aufschrei stürzte sich Imnak auf einen der gefesselten Jäger. Ich verhinderte, daß er den Mann umbrachte.
»Wir müssen weiter«, sagte ich und übergab mich in Schnee. Der Gestank war zuviel gewesen für meinen Magen. Ich fesselte sie rücksichtslos. Meine Männer freuten sich lautstark. Ich bin deine Gefangene, Kapitän«, sagte sie.
Ich reagierte nicht, sondern reichte sie an einen meiner Männer weiter.
»Wir verlassen uns auf dein Wort«, sagte Sorgus der Fellräuber unbehaglich.
»Darauf kannst du dich auch verlassen«, antwortete ich.
Mit seinen Männern verließ er den großen Holzbau, in dem er Zuflucht gesucht hatte und schob sich nervös zwischen meinen Männern hindurch. Ich hatte zugelassen, daß sie ihre Waffen behielten. Mir ging es nicht darum, unwichtige Nebenfiguren um-