zubringen.
Auf der Westseite der Mauer war nämlich nicht alles so glatt gegangen. Als die Männer und Wächter dort von dem Mauereinbruch und den weiteren Entwicklungen erfuhren, war der größte Teil geflohen. Andere hatten sich jedoch unter dem Kommando Sorgus’ zusammengefunden und waren ausgeritten, um das Blatt doch noch zu wenden. Bei ihrem Angriff war ihnen allerdings nicht bewußt gewesen, daß neun unserer Männer mit Bögen aus gelbem Ka-la-na-Holz bewaffnet waren und als Landvolk auch damit umgehen konnten. Hinter jedem dieser Schützen standen Männer mit Bündeln von Pfeilen in den Händen. Von der Streitmacht Sorgus’, die im Anfang fünfundneunzig Mann umfaßt hatte, waren etwa fünfzig dem Pfeilhagel der Verteidiger zum Opfer gefallen. Nur fünf waren überhaupt nahe an die Bogenschützen herangekommen, und um die hatte ich mich gekümmert. Daraufhin hatte Sorgus mit den vierzig Überlebenden einen Ausfall in Richtung Versammlungshaus gemacht und sich darin verschanzt.
»Er wartet auf die Rückkehr der Tarnkämpfer, die noch auf Patrouille sind«, sagte Ram.
Einem Angriff aus der Luft waren wir ziemlich schutzlos ausgesetzt. Ein von einem angreifenden Tarn abgeschossener Pfeil, beschleunigt durch die Schwerkraft und das Bewegungsmoment des geflügelten Tiers, kann sich einen Fuß tief in kompaktes Holz bohren. Die Abwehr dagegen, die nach oben gerichtete Pfeile, die sich gegen die Anziehung des Planeten behaupten müssen, kann nur eine begrenzte Reichweite und Wirksamkeit haben. Außerdem würden meine Männer auseinanderlaufen müssen, was natürlich zur Folge hatte, daß Sorgus und seine Leute unter dem deckenden Beschuß ihrer Tarnkämpfer einen Ausfall aus dem Gebäude machen würden.
»Wann sollen die Tarnkämpfer von der Patrouille zurückkehren?« fragte ich.
»Keine Ahnung«, antwortete Ram.
»Sorgus!« rief ich laut.
»Ich höre dich!« hatte der Mann aus dem Holzgebäude geantwortet.
»Ergib dich!«
»Kommt nicht in Frage!« antwortete er. Pfeile waren auf die Tür gerichtet, hinter der er stehen mußte.
»Ich möchte weder dich noch deine Männer töten müssen«, fuhr ich fort. »Wenn du sofort kapitulierst, dürft ihr alle eure Waffen behalten und friedlich abziehen.«
»Hältst du mich für einen Dummkopf?« rief er zurück.
»Wann rechnest du damit, daß deine Tarnkämpfer zurückkehren?« fragte ich.
»Bald!«
»Dann hoffe ich, um deinetwillen, Sorgus, daß sie bald hier sind, und zwar innerhalb einer Ahn.«
Ich postierte meine Bogenschützen rings um das Gebäude.
»Was soll das heißen?« fragte Sorgus.
»Ich werde das Haus in Brand stecken!«
»Warte!«
»Entweder zieht ihr jetzt friedlich ab«, sagte ich, »oder ihr sterbt in der nächsten Ahn. Dieses Angebot gilt für dich und deine Männer.«
Immer neue Männer stießen zu uns, teilweise noch in den Ketten, in denen die Wächter sie im Stich gelassen hatten. Sie kamen aus den weiter östlich liegenden Abschnitten der Mauer. Wir würden uns später um sie kümmern. Aber auf diese Weise standen nun etwa dreihundertundsiebzig Mann rings um den Ibu, auf die eine oder andere Weise bewaffnet, einige sogar mit Steinen. Und die Männer waren nicht sonderlich gut auf das Gesindel in dem Holzbau zu sprechen.
»Woher soll ich wissen, daß du uns wirklich ziehen läßt?«
»Ich habe es versprochen. Und ich bin ein Krieger.«
»Woher sollen wir das wissen?«
»Schicke deinen besten Schwertkämpfer heraus, dann beweiset ich es dir!«
Schweigen. Niemand kam aus dem Gebäude.
»Ich warte eine Ahn lang. Dann lasse ich den Versammlungssaal anstecken.« Und ich gab Befehl, die Brände vorzubereiten.
Wenige Sekunden später hörte ich aus dem Inneren ihre schrille, entsetzte Stimme. »Nein, nein!« flehte sie. »Kämpft auf Leben und Tod! Wehrt euch bis zum letzten Mann!«
Da wußte ich, daß ich gewonnen hatte.
Sorgus trat aus der Tür, die Hände erhoben, das Schwert achtlos an der Hüfte. Ich blickte Sorgus und seinen Männern nach.
»Ich bin eine freie Gefangene«, sagte sie. »Ich fordere alle entsprechenden Rechte und Privilegien.«
»Nehmt den Männern die Ketten ab«, befahl ich und deutete auf die früheren Gefangenen, die erst jetzt zu uns gestoßen waren.
»Ja, Kapitän«, sagte ein Mann, der ein Schmied war.
Ich wandte mich der blonden Gefangenen zu.
»Ich bin eine freie Gefangene…«
»Halt den Mund!« befahl ich. »Du hast hier mal das Kommando geführt. Aber damit ist es vorbei. Du bist jetzt nichts anderes als ein Mädchen auf Gor.«
Erschrocken sah sie mich an.
»Wann werden die Tarnkämpfer zurückerwartet?« fragte ich.
»Bald«, sagte sie drohend.
Ein Mann riß ihr den Kopf am Haar zurück. Ich setzte ihr den Dolch an die Kehle.
»Vier Tage«, flüsterte sie. »Sie sollen am Nachmittag des ersten Tages der Passage-Hand wieder hier sein.«
»Fessele sie!« sagte ich zu dem Mann. »Und wenn die Tarnkämpfer vor dem angegebenen Nachmittag eintreffen, schneidest du ihr die Kehle durch.«
»Nein!« rief sie.
»Wir haben viel zu tun«, wandte ich mich an meine Männer. »Die Mauer muß restlos vernichtet werden. Danach dürft ihr die verbleibenden Vorräte und die Beute unter euch aufteilen und verschwinden. Sollte sich jemand verdrücken wollen, ehe die Arbeit getan ist, so wird er zwischen den toten Tabuk angepflockt!«
Die Männer musterten sich unbehaglich. Sie hatten keine Lust, den aasfressenden Jards als Mahlzeit angeboten zu werden.
»Imnak«, sagte ich. »Du ersteigst die Plattform und hältst Wache. In zwei Ahn wirst du abgelöst.«
Er brummte etwas und wandte sich der Treppe zu.
»Wir haben Hunger«, sagten einige Männer.
»Ich auch. Bratet euch etwas. Aber es wird kein Paga getrunken. Für heute ist es zu spät, um mit der Arbeit zu beginnen. Aber morgen geht es los.«
Jubelgeschrei brandete auf.
Am Morgen würden sich die Männer bereitwillig an die Arbeit machen. Ich nahm nicht an, daß die Zerstörung der Mauer lange dauern würde, sicher nicht länger als bis zur Passage Hand. Als Arbeiter hatten wir mehr als dreihundertundfünfzig Mann zur Verfügung. An vielen Stellen war die Mauer auch schon durch den Ansturm der Tiere in den letzten Wochen geschwächt worden.
Ich hörte zwei Mädchen jammern. Ein Mann kam aus dem Küchenschuppen, in dem Fingerhut und Distel sich versteckt hatten. Er zerrte sie hinter sich her.
»Halt!« befahl ich. »Wir sind ehrliche Männer. Die Mädchen gehören Imnak.«
»Er ist ein rothäutiger Jäger!« rief jemand.
»Und einer von uns«, fügte ich hinzu. »Keiner macht sich ohne seine Erlaubnis an die Mädchen heran. Notfalls sorge ich mit dem Schwert für Disziplin!«
Ich blickte auf die knienden Mädchen hinab. »Es sind hier viele Männer, die zweifellos Hunger haben. Vielleicht solltet ihr in den Küchenschuppen zurückkehren und eurer Arbeit nachgehen.«
»Ja, Herr!« riefen sie.
»Zieht eure Tuniken herunter!« sagte ich warnend.
Weinend flohen sie in den Küchenschuppen, wobei sie die kurzen Gewänder langzuziehen versuchten, damit von ihrer Schönheit nicht zu viel sichtbar war. Die Männer lachten brüllend. Ich lächelte. Die kurzen, an der Seite geschlitzten Kleidder waren nicht dazu angetan, einem Mädchen bei diesem Bestreben Erfolg zu verheißen. »Wir sind jetzt allein«, sagte ich zu ihr.
Es war der frühe Nachmittag des ersten Tages der Passage Hand.
»Ganz allein?« fragte sie.
»Ja«, antwortete ich.
»Wo sind die Männer?«
»Die Arbeit ist getan. Die Mauer ist umgelegt und verbrannt, ebenso alle Gebäude bis auf den Versammlungsbau dort hinten. Die Arbeiter haben sich Wertsachen und Gold genommen und sind verschwunden – in den Süden.«
»Sie haben mein Gold?« fragte sie entgeistert.
»Ja. Zehn Metallkassetten wurden aufgebrochen, der Inhalt aufgeteilt. Nur wenige Männer sind mit diesem reichen Lohn für
ihre Dienste unzufrieden.«
»Dann bin ich jetzt ohne Geldmittel«, sagte sie.