»Du bist hübsch. Vielleicht findet sich ein Mann, der dich am Leben erhält.«
»Du bist ein Scheusal!«
»Die gefangenen Wächter und Jäger sind freigelassen und mit Proviant ausgestattet worden. Auch sie haben den Weg in den in Süden angetreten.«
»Du bist sehr großzügig!«
»Manchmal – gegenüber Männern.«
»Was ist mit dem rothäutigen Jäger?«
»Von allen, die an der Mauer arbeiten mußten, hat er als einziger den Weg nach Norden eingeschlagen.«
»Und die beiden Mädchen?«
»Die hübschen Dinger laufen vor ihm her«, antwortete ich. Imnak hatte einen kleinen Schlitten gebaut, der ihm bei der Überquerung des Axtgletschers von Nutzen sein konnte. Fingerhut und Distel zogen ihn über den Schnee der weiten Tundra. Vor der Abreise hatte er die Mädchen noch angewiesen, sich für den Norden geeignete Kleidung zu machen; Felle gab es ja genug an der Mauer. Der Schlitten war schwer beladen, aber Gold war kaum dabei gewesen. Imnak hatte größeren Wert auf Zucker und Bazi-Tee, Felle und Werkzeuge gelegt. Interessanterweise hatte er auch viel Holz auf den Schlitten gepackt, Planken wie auch Pflöcke, denn dieses Baumaterial ist im Norden von großem Wert.
Aus Holz lassen sich Schlitten und Zeltstangen und Rahmen für Kajaks und Umiaks machen, die großen, breiten Boote für mehrere Fischer, die beim Walfang gebraucht werden. Im Lande des Imnak gedeihen keine Bäume, und so mußte der Holzbedarf notdürftig durch gelegentliche Funde an der Küste gedeckt werden, Treibholz, das viele hundert Pasangs weit im kalten Wasser getrieben war.
»Auch du solltest lieber fliehen«, sagte Sidney Anderson.
»Die Arbeiter sind nicht geflohen«, gab ich zurück. »Sie kehren lediglich in ihre Heimat zurück.«
»Du bist aber hiergeblieben.«
»Ja – und mit einer ganz bestimmten Absicht.« An ihren Fesseln zerrte ich sie hoch und hinter mir her.
»Wohin bringst du mich?«
Ich ging zielstrebig auf die Plattform mit dem Auspeitschgestell zu und zerrte sie rücksichtslos die Stufen hinauf.
»Was hast du vor?« fragte sie.
»Bald werden doch die Tarnkämpfer kommen, oder?«
»Ja«, sagte sie zornig.
»Du wirst jetzt den Priesterkönigen dienen, meine kleine Schönheit«, sagte ich. »Und zwar als Lockvogel.« Und ich fesselte sie mit den Händen an das Gestell. Die Tarnkämpfer waren vorsichtig. Sie waren zu fünft Mehrmals umflogen sie das Gebiet.
Trotz der Höhe hatten sie sicher keine Mühe, die hübsche Gefangene zu identifizieren, die auf der Plattform stand. So hoch im Norden gab es nur wenige weiße Mädchen. Sie würden sie also erkennen. Natürlich mußte ihnen auch auffallen, daß die Mauer und die Gebäude zerstört waren – bis auf die Versammlungshalle.
Daraufhin würde ein Tarnkämpfer landen, um sich umzusehen.
Ich legte einen Pfeil aus schwarzem Temholz auf und spannte den gelben Bogen. Die Bogensaite bestand aus Hanf, der mit Seide durchflochten war. An dem Pfeil waren Federn der Vosk-Möwe befestigt.
»Vorsichtig!« schrie Sidney Anderson, als ihr der Knebel aus dem Mund gezogen worden war. »Einer ist noch hier!« Aber ich nahm nicht an, daß er sie hörte. Sie schrie auf, und er wirbelt zur Seite und stürzte von der Plattform, den Pfeil in der Brust. Im gleichen Sekundenbruchteil warf ich den Bogen fort und sprintete auf den Tarn zu. In den Sattel springend, zerrte ich heftig am Einer-Zügel. Das geflügelte Monstrum schrie vor Wut auf und bäumte sich flügelschlagend zurück. Ich lehnte mich zur Seite und wich den zustoßenden Krallen eines aus dem Himmel herabstoßenden Vogels aus. Wieder zog ich am Zügel und warf damit den Vogel beinahe auf den Rücken, der automatisch die Krallen hochgerissen hatte. Fast wäre ich aus dem Sattel gefallen, als mein Tarn, von dem nächsten Angreifer getroffen, zurückgeschleudert wurde und wieder an Höhe verlor; dabei befanden wir uns erst vierzig Fuß über dem Boden. Beide Vögel stürzten sich kreischend aufeinander. Scharfe Krallen zuckten vor. Ein Armbrustpfeil sirrte an meinem Kopf vorbei. Ein dritter Tarn rückte von links näher. Ich zerrte den Schild aus den Sattelschlaufen und wehrte die scharfen Krallen ab, die im Leder tiefe Furchen hinterließen. Der vierte Tarn befand sich unter uns. Ich sah, wie der Mann mit dem Speer noch oben stieß. Die Spitze verwundete mich am Bein. Ich zog den Tarn nach links, wobei wir unseren unmittelbaren Gegner mitrissen. Der Tarnkämpfer links von mir zog den Einer-Zügel, um nicht mit seinem Kampfgenossen in Konflikt zu geraten. Der Bursche, dessen Tarn mein Tier zu zerreißen versuchte, benutzte einen Sechser-Zügel, und entschwand nach rechts oben. Auf der linken Seite fuhr ein Armbrustpfeil durch meinen Sattel, im nächsten Augenblick raste der Schütze hinter mir vorbei. Nun hatte mein Tarn wieder freie Bahn.
Meine vier Gegner formierten sich zu einer Gruppe und gewannen im großen Bogen an Höhe, etwa hundert Meter von mir entfernt. Ich ließ meinen Tarn ebenfalls aufsteigen, schneller und höher, um eine Position über den Männern zu erreichen. Und dann war die Sonne hinter mir, und sie flogen tiefer. Sie öffneten die Formation und begannen mich einzeln zu umkreisen. Sie hatten keine Lust, aus dem Tarnhinterhalt, aus der Sonne heraus überfallen zu werden. Aber ich achtete darauf, daß ich den Vorteil der Höhe nicht verlor. Vorsichtshalber legte ich den Bauchgurt um und. untersuchte den Schild. Er war zwar eingerissen, konnte mir aber noch nützlich sein. Am Sattel war ein Speer befestigt, den ich aus seinen Schlaufen löste. Hinter dem Sattel hing ein Bündel Pfeile. Tief unter mir war das Mädchen angebunden. Plötzlich lachte ich befreit auf. Ich zog noch einmal am Einer-Zügel. In den Wolken wollte ich meine Gegner erwarten. Die goreanischen Monde standen hoch am Himmel, als ich auf die Plattform zurückkehrte.
Es war eine lange Jagd gewesen. Sie hatte sich über Distanzen von mehreren Pasangs bewegt. Zwei Mann waren so dumm gewesen, mir in die Wolken zu folgen, die anderen beiden waren geflohen. Erst am späten Nachmittag hatte ich sie einholen können. Sie hatten verzweifelt und gut gekämpft.
»Du bist ihnen entkommen«, sagte das Mädchen staunend. Es waren doch vier!«
Mein Tarn war geschwächt und blutüberströmt. Ich wußte nicht, ob er es überleben würde, denn zuletzt hatten sich die Männer an dem Tier ausgelassen. Erst kurz danach war es mir gelungen, die Jagd zu beenden.
»Du mußt fliehen«, sagte sie, »ehe sie zurückkehren!«
»Glaubst du immer noch, daß sie dich retten werden?« fragte ich.
»Aber ja!«
»Sie sind tot.«
Ich war müde. Zum erstenmal berührte ich sie mit voller Absicht, griff ihr in den Ausschnitt und nahm ihre Brüste in die Hand. Sie war wirklich begehrenswert.
»Faß mich nicht an!« fauchte sie und schrie auf, als ich die vier abgeschlagenen Köpfe vom Sattel losband und ins trockene Gras warf. Ich war müde und hatte aus der Wunde am Bein viel Blut verloren. Ich wandte mich ab, stieg von der Plattform und begab mich in den Versammlungsbau, um zu schlafen.
»Du Barbar!« kreischte sie hinter mir her. »Du Barbar!« Am nächsten Morgen erwachte ich mit frischen Kräften. Die Sonne stand strahlend am Himmel, ich hatte gut gegessen und mir einen Rucksack fertiggemacht, in dem sich meine Habseligkeiten und etliche Vorräte befanden. Schließlich erstieg ich die Plattform, auf der das Mädchen bewußtlos lag.
Ich rüttelte sie wach. »Ich gehe jetzt«, sagte ich.
Sie blickte mich verständnislos an. Ich wandte mich ab und blickte über die Tundra, die einsame Landschaft, die verkohlten Überreste der Mauer und der anderen Gebäude. Den Versammlungsraum wollte ich noch in Brand stecken, ehe ich ging. Der Norden ist eine Einöde, die auf ihre abweisende Art sehr schön sein kann. Es war kühl. In der Nacht hatte es etwas geschneit. Einige Nachzügler der Tabukherde überquerten vorsichtig die Linie, die einmal die Mauer gewesen war. Sie würden der Herde nach Norden folgen, ohne zu ahnen, daß es hier jemals ein unüberwindliches Hindernis gegeben hatte.
»Willst du mich hier zurücklassen? Soll ich sterben?« Ich schnitt sie los und löste ihre Fesseln. Sie sank wimmernd auf die Holzbohlen der Plattform und raffte ihre Felle zusammen, die dort lagen.