Ich streckte die Hand aus und stemmte sie gegen die Flanke des Säugetiers. Der Hunjerwal besitzt ein mit Zähnen bewehrtes Maul. Neben mir trieben Imnak und die anderen Jäger ihre Lanzen wie Nadeln in die Flanke des Tiers; immer wieder stachen sie zu.
Das Fleisch des Wals bebte, ließ Wasser aufspritzen. Ich fürchtete schon, daß unser Boot eingedrückt werden könnte.
Das Wesen ächzte.
»Haltet die Leine fest!« rief Imnak.
Ich griff danach, hielt fest und zerrte und hielt das Umiak an der Flanke des Riesenfisches, damit die Fischer weiter zustechen konnten.
Im nächsten Augenblick verschwand das Auge des Tiers unter Wasser, Ich sah die Schwanzflossen emporzucken,
»Loslassen!« schrie Imnak.
Ich warf die Leine über Bord.
Die Schwanzflosse ragte hoch über uns auf, der Körper des Tiers stand beinahe senkrecht. Die Lederleine verschwand unter Wasser. Das Tier war fort.
»Jetzt warten wir ab«, sagte Imnak. »Dann fängt alles wieder von vorne an.«
Es schien sehr ruhig zu sein auf dem Meer. Man konnte sich kaum vorstellen, daß wir durch die dünne Leine mit dem Riesengeschöpf tief unter uns verbunden waren. Ringsum trieb Eis im Wasser. Der Wind wehte den Atem des Monstrums auseinander, löste den Dunst langsam auf.
Über der felsigen Küste, die sich eine halbe Pasang hinter uns erstreckte, zeichnete sich das ständige Lager ab; darüber stand Rauch. Ich fror erbärmlich. Wenn wir ins Lager zurückkehrten, würde ich als erstes heißen Tee trinken.
19
»Aja! Aja!« sang die Frau.
Ich biß in das gebratene Fleisch. Neben mir saß Imnak mit untergeschlagenen Beinen. Er kaute rohen Speck, dessen Fett ihm zu beiden Seiten des Mundes herablief. Er wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel ab.
Das Festhaus war voll. Etwa vierzig Männer und Frauen drängten sich in dem Gebäude.
Imnak und ich waren mit den Mädchen schon sehr früh in den Norden gekommen. Wochenlang hatten wir im ständigen Lager gewartet. Es war noch leer gewesen. Im Frühherbst waren schließlich mehrere Familien eingetroffen, um die vor ihrer Wanderung verlassenen Unterkünfte wieder einzunehmen. So ergab es sich nun, daß wir genausogut mit dem Volk hätten nach Norden ziehen können, mit den verschiedenen Gruppen, die sich in ihre ständigen Winterquartiere begaben. Mit meiner Eile hatte ich nichts erreicht. Wir hatten gejagt und gefischt und uns mit den Sklavinnen vergnügt; ansonsten hatten wir nur gewartet.
»Ich hatte nicht erwartet, daß Karjuk ein leeres Lager aufsuchen würde«, sagte Imnak, »aber ich wußte es nicht genau. Folglich bin ich mit dir in den Norden gezogen.«
»Das Lager ist nicht mehr leer«, stellte ich fest.
Imnak zuckte die Achseln. »Da hast du recht.«
»Wo ist Karjuk?«
»Vielleicht kommt er.«
»Und was ist, wenn er nicht erscheint?«
»Dann kommt er nicht«, sagte Imnak.
Die Wochen gingen ins Land, und ich war immer unruhiger geworden.
»Machen wir uns auf die Suche nach Karjuk«, sagte ich.
»Wenn die Eis-Ungeheuer Karjuk nicht aufspüren«, antwortete Imnak, »wie wollen wir ihn finden.«
»Was können wir tun?«
»Wir können warten«, sagte er.
Und wir hatten gewartet. Und gesungen.
Die Gesänge der rothäutigen Jäger sind ihr ureigenstes Werk. Man geht davon aus, daß sich jeder Mann und jede Frau eigene Lieder zurechtlegt, so wie man auch erwartet, daß jeder schnitzen und jagen kann. Die Lieder dieses Volkes sind im allgemeinen sehr schlicht, doch einige auch sehr schön und sogar anrührend. Die Jäger begleiten sich dabei auf einer großen, mit Tabukleder bespannten Trommel, die, auf den Holzrahmen geschlagen, eine seltsame Resonanz erbringt.
Ein Mann stimmte ein Lied über das Kajakbauen an, eine Hymne an Leder, Holz und Sehnen, mit denen er arbeitete und die ihn im Polarmeer nicht im Stich lassen durften. Jemand anders ließ ein Sleenlied folgen, eine Ermutigung an das Tier, dorthin zu schwimmen, wo der Jäger es treffen kann. Das dritte Lied drehte sich um einen jungen Schurken, der eigentlich auf die Tabukjagd gehen sollte, sich aber statt dessen hinlegte und seine Stiefel an einem Felsen abschabte und seinen Gefährten später mitteilte, er habe vergeblich gejagt. Nach den Blicken zu urteilen, die durch den Saal geschickt wurden, war dieser junge Mann sogar anwesend. Später sangen zwei Frauen, die eine über das Sammeln von Vogeleiern in ihrer Jugend, die andere über die Freude beim Anblick eines Verwandten, den sie seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Ich werte es als recht positiv, daß die rothäutigen Jäger Lieder erfinden. Sie sind nicht so kritisch wie andere Völker. Für sie ist es oft wichtiger, daß ein gern gesehener Mitmensch überhaupt singt, als daß sein Lied gut ist Wenn es ein »echtes« Lied ist, das vom Herzen kommt, freuen sie sich darüber. Vielleicht ist das Lied allein dadurch »gut«. Andererseits empfinden die rothäutigen Jäger ihre Lieder als kostbar und geheimnisvoll. Sie freuen sich, daß es Lieder gibt. Bei ihnen gilt das geflügelte Wort: »Niemand weiß, woher Lieder kommen.«
»Sing, Imnak!« rief Akko.
»Sing, Imnak!« rief Kadluk.
Imnak schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein«, sagte er.
»Imnak singt nie«, sagte Poalu zu mir.
»Ich kann nicht singen«, sagte Imnak.
»Nun komm schon, sing!« riefen andere.
Zu meiner Überraschung stand Imnak auf und verließ hastig das Festhaus.
Ich folgte ihm ins Freie. Besorgt ging mir Poalu nach.
»Ich kann nicht singen«, sagte Imnak. Er stand unten am Wasser. »Mir steigen keine Lieder in den Mund, ich bin ohne Lieder. Ich ähnele dem Eis auf dem Gletscher, der niemals Blumen hervorbringt. Mir fliegt nie ein Lied zu. In meinem Herzen ist noch kein Lied geboren worden.«
»Du kannst singen, Imnak«, sagte Poalu.
»Nein«, antwortete Imnak. »Kann ich nicht.«
»Eines Tages wirst du im Festhaus singen«, sagte Poalu.
»Nein«, sagte Imnak. »Ich kann nicht singen. Geh wieder ins Festhaus!«
Sie machte kehrt. Das Festhaus unterschied sich kaum von den anderen Behausungen im ständigen Lager, außer daß es größer war. Es war halb in den Boden hineingegraben und mit doppelten Wänden versehen. Diese beiden Mauern bestanden aus Steinen. Dazwischen dienten Torfschichten, gestochen auf der Tundra, zur Isolation. Auf der Innenseite waren darüber hinaus noch Tabukfelle gespannt worden, um die Wärme zu halten. Oben im Dach war ein Rauchabzug. Beim Eintreten mußte man sich durch eine niedrige Öffnung bücken. Die Decke, gestützt von zahlreichen Säulen, bestand aus Schichten von Gras und Lehm. Das Lager umfaßte das Festhaus und zehn oder elf weitere Hütten. Die Jägervölker zählten insgesamt etwa fünfzehnhundert Seelen, die jedoch in getrennt ziehenden kleinen Gruppen lebten. Im Sommer kam man zur großen Tabukjagd zusammen, wenn die Herde von Tancred den Axtgletscher überquerte und die Tundra erreichte, doch selbst dann bildeten sich immer wieder die kleinen Gruppen, die bei der Verfolgung des Tabuk für sich arbeiteten. Gegen Ende des Sommers suchten die Jäger, die nur im Frühling oder Frühsommer zusammenkamen, wieder ihre eigenen Lager auf. Es gab etwa vierzig Lager, teilweise mehrere Tagesreisen weit voneinander entfernt. Imnaks Lager gehörte zu den zentral liegenden Siedlungen, in denen die rothäutigen Jäger den größten Teil des Jahres zubrachten. Manchmal verließen sie sie im Winter, wenn sie weitere Nahrung brauchten; dann machten sich einzelne Familien zuweilen auf die Sleenjagd und wagten sich dabei auf das Packeis hinaus. Sleen tauchten nur selten auf; ihr Fleisch reichte nicht aus, um zehn oder zwölf Familien aus einem Lager zu ernähren. Wenn es wenig Beute gibt, läßt sich manchmal ein Ausgleich schaffen, indem man die Größe der Jagdgruppe verringert oder den Bereich der Jagd erweitert. Besonders im Winter ist es wichtig, daß die Familie einen guten Jäger hat.