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Imnak schaute über das Wasser.

»Einmal glaubte ich ein Lied machen zu können«, sagte er. »Ich wollte singen. Ich wollte sogar sehr gern singen – über die Welt und wie schön sie ist, über das große Meer, die Berge, die hübschen Sterne, den mächtigen Himmel.«

»Warum hast du das Lied nicht gemacht?« fragte ich.

»Eine Stimme«, sagte Imnak, »schien mir zuzuflüstern: ›Wie kannst du es wagen, ein Lied zu machen? Wie kannst du es dir anmaßen zu singen? Ich bin die Welt, ich bin das große Meer, die hohen Berge, die funkelnden Sterne, der weite Himmel! Glaubst du, du kannst uns in dein kleines Lied stecken?‹ Da bekam ich Angst und ließ es sein.«

Ich musterte ihn von der Seite.

»Seit dem Tag habe ich nicht mehr zu singen versucht.«

»Singen ist nichts Falsches«, sagte ich.

»Wer bin ich schon, daß ich mir ein Lied ausdenke?« fragte Imnak. »Ich hin ein Niemand.«

»Aber es wäre besser, ein Lied vorzutragen und damit einen Fehlschlag zu erleiden, als es gar nicht zu versuchen.«

»Ich bin zu klein«, sagte Imnak. »Ich kann nicht singen. Kein Lied läßt sich auf meiner Schulter nieder. Kein Lied kommt zu mir und bittet mich, es zu singen.«

»Kein Lied kann den Himmel einfangen«, sagte ich. »Kein Lied kann die Berge umfassen, die ganze Welt. Sie bestehen außerhalb der Welt wie Liebende, und sagen ihr, wie schön sie ist.«

»Ich kann nicht singen«, sagte er und wandte sich ab.

Aus dem Festhaus tönte Gelächter herüber. Über dem Polarmeer standen die Sterne. Die Dämmerung des polaren Winters hatte bereits eingesetzt.

Die Überreste des mächtigen Hunjerwals lagen am Strand, ein Großteil war bereits zerteilt worden, viele Knochen hatte man verarbeitet.

»Die Fleischgestelle sind voll«, sagte ich. Meine Worte galten den hohen Holzgebilden, die da und dort im Lager standen.

»Ja«, sagte Imnak.

Vor zwei Wochen war es uns gelungen, einen Bartenwal zu erlegen. Daß in einer Jagdsaison zwei Wale getötet werden konnten, war ein seltenes Fangglück. Manchmal vergingen zwei oder drei Jahre, ohne daß überhaupt ein Wal gesichtet wurde.

»Es ist gut«, sagte Imnak und betrachtete die Fleischgestelle. »Vielleicht müssen die Familien in diesem Winter nicht aufs Eis.«

Die Jagd auf dem Eis kann gefährlich sein. Durch Wind und Gezeiten getrieben, kann sich das Terrain verschieben, aufbäumen oder sogar brechen.

Die Sonne stand unter dem Horizont. Lachen schallte aus dem Festhaus.

Die Polarnacht ist natürlich nicht völlig dunkel. Die goreanischen Monde und sogar die Sterne verbreiten Licht, das von Schnee und Eis reflektiert wird und mehr als ausreichend ist, um sich zurechtzufinden. Doch sobald Wolken oder Stürme aufziehen, ist es mit dem Licht natürlich vorbei. Dann müssen die Jäger drinnen bleiben und sich mit dem Toben des Sturms abfinden.

»Ich kann mich nicht erinnern, daß die Gestelle schon einmal so schwer beladen waren«, bemerkte Imnak.

»Kein Wunder, daß die Stimmung im Festhaus so gut ist«, sagte ich.

Außer den Walen waren noch viele Sleen und Fische gefangen worden. Darüber hinaus hatten die Familien auf dem Wege nach Norden soviel Tabukfleisch mitgeschleppt, wie sie tragen konnten. Sogar die Kinder hatten mitgeholfen. Zu der Fracht gehörten auch Eier und Beeren und zahlreiche andere Güter und Leckereien, Dinge des Sommers, allerdings nicht ausschließlich für die Speisekammer – es waren auch Horn und Sehnen, Knochen und Felle darunter.

Die Sonne würde ein halbes Jahr lang nicht mehr zu sehen sein. Sie würde mir fehlen.

»Ich glaube, wir haben genug zu essen für den Winter«, sagte Imnak.

Ich betrachtete die hohen Fleischgestelle, die zum Teil über zwanzig Fuß hoch waren, um das Fleisch vor dem Angriff der Sleen, der gezähmten wie auch der wilden Sleen, zu schützen. Im Laufe des Winters, wenn die Schnee-Sleen keine Leems mehr fangen, rückten sie in Rudeln immer näher an die Lager heran, und das konnte gefährlich werden.

»Selbst wenn wir genug zu essen haben für den Winter«, sagte ich, »muß ich bald aufbrechen, wenn Karjuk nicht bald kommt, auch wenn das zur Folge hat, daß ich in der Polarnacht aufs Eis muß.«

»Bleib im Lager!« forderte Imnak mich auf.

»Du brauchst mich nicht zu begleiten, mein Freund.«

»Sei kein Dummkopf, Tarl, der mit mir jagt«, sagte er.

»Du kannst bei deinen Freunden bleiben, die sich im Festhaus vergnügen.«

»Habe keine schlechte Meinung von meinem Volk«, gab er zurück, »weil es gern lacht und sich Geschichten erzählt und singt. Die Jäger haben nicht immer ein angenehmes Leben.«

»Verzeih mir«, sagte ich.

»Im Festhaus gibt es keinen meines Volkes, so er erwachsen ist, der nicht mindestens eine Periode schlechter Jagdbeute durchmachen mußte«, sagte er. »Die Kinder wissen davon noch nichts, wir erzählen es ihnen nicht.«

Ich wußte, daß die rothäutigen Jäger ihre Kinder sehr großzügig behandelten. Sie schalten sie selten und schlugen sie fast nie. Sie schützten ihre Kleinen so gut sie konnten. Früh genug würden die Kinder erfahren, was das rauhe Gor für sie bereithielt. Bis dahin sollten sie Kinder bleiben.

»Nicht wenige Erwachsene meines Volkes haben schon Angehörige des Volkes verhungern sehen«, fuhr Imnak fort. »Oft ist das nicht der Fehler unserer Leute. Es kommt eine Krankheit oder schlechtes Wetter. Manchmal gibt es ein Unwetter, und der Schnee deckt die Atemlöcher des Sleen zu.« Er sprach sehr leise. »Manchmal gibt es auch Unfälle. Ein Kajak wird zerrissen, man stürzt. Zuweilen bricht auch das Eis. Nein, habe keine schlechte Meinung von meinem Volk. Laß sie lachen und fröhlich sein. Verachte sie nicht wegen ihrer Freude darüber, daß die Fleischgestelle schwer beladen sind.«

»Verzeih mir, mein Freund.«

»Schon geschehen.«

»Du bist ein großer Jäger«, sagte ich.

»Ich bin kein großer Jäger«, gab er zurück. »Aber es gab mal einen Tag, da tötete ich sechs Sleen.« Er grinste.

»Gehen wir ins Festhaus«, sagte ich.

Gemeinsam kehrten wir in den Kreis der anderen zurück.

20

»Dort drüben«, sagte Imnak und deutete auf eine Stelle im Wasser.

»Ja«, sagte ich.

Ich legte das zweiblättrige Paddel auf das Leder des Kajaks hinter mir. Dann zog ich den Fäustling von der rechten Hand und hielt ihn mit den Zähnen fest. Ich griff nach dem Wurfbrett und der leichten Harpune und fügte den Harpunenschaft in die Kerbe am Wurfbrett. Die Harpune hatte einen knöchernen Vorderschaft mit einer Knochenspitze mit Widerhaken. In einer runden Senke unmittelbar vor mir auf dem Leder lag zusammengerollt eine mehrere Fuß lange Lederleine, die aus geflochtenen Tabuksehnen bestand; sie führte zur Harpune. Rechts von mir, entlang der Außenkante des Bootsrahmens, lag die lange Lanze.

»Dort«, flüsterte Imnak, der einige Fuß entfernt in seinem Kajak lauerte; mein Boot gehörte Akko.

Der schimmernde Kopf eines Sleen tauchte aus dem Wasser auf. Das Tier war ein mittelgroßer, ausgewachsener Meeres-Sleen, etwa acht Fuß lang und vierhundert Pfund schwer.

Ich hatte nun schon vier Sleen hintereinander verfehlt und war nicht gerade zufrieden mit mir selbst.

Ich legte mir einige Schlingen Leine locker über die behandschuhte Linke. Dann versuchte ich den Bug des Kajaks ungefähr auf das Tier im Wasser ausgerichtet zu halten. Ohne Paddel erreicht man das, indem man innerhalb des Bootsrahmens Beine und Körper bewegt.

Der Sleenkopf verschwand wieder unter dem Wasser. Ich legte Harpune und Wurfbrett aus der Hand, dann zog ich den Handschuh wieder an. Das Ding besaß zwei Daumen, damit ich es anziehen konnte, wie ich wollte.

»Letztesmal war ich zu schnell«, sagte ich.

»Ja«, sagte Imnak.

»Das Kajak war zu unruhig«, sagte ich.

»Du hättest es ruhig halten sollen«, meinte Imnak.

»Vielen Dank, Imnak. Darauf wäre ich allein nie gekommen.«

»Wozu hat man schließlich Freunde?« fragte Imnak.

»Imnak!« schrie ich auf. Sein Kajak hatte sich plötzlich umgedreht und schwamm nun mit dem Kiel nach oben im kalten Wasser. Im nächsten Augenblick schwamm es jedoch wieder richtig herum; Wasser strömte von dem Kajak und von Imnaks Felljacke. »Unter Wasser ist es zu dunkel«, sagte er. »Man sieht nichts.«