»Tu das weg!« sagte ich zu Imnak.
Imnak fertigte mehrere solcher Beinfedern. Dann bettete er sie in etliche Fleischstücke.
Er warf eines dieser Fleischstücke ins Freie.
»Jetzt wollen wir schlafen«, sagte er.
»Du tust da etwas Schreckliches, Imnak«, sagte ich.
»Möchtest du weiterleben?«
»Ja.«
»Dann rede nicht«, sagte er. »Entweder wir oder die Sleen.«
Ich lag in der Nacht lange wach. Dann hörte ich plötzlich den durchdringenden schrillen Schrei eines Tieres. Die Sehne hatte sich im Magen aufgelöst.
»Was ist?« rief Arlene.
»Nichts«, sagte ich zu ihr. Dann schlief ich. Wir zogen nach Norden.
Sleen folgten uns nicht mehr. Der erste der fünf Sleen war vor zwei Schlafperioden umgekommen. Er war von den anderen vier gefressen worden. Zwei sattgefressene Tiere hatten daraufhin unsere Spur verlassen, um sich anderweitig umzutun. Zwei Tiere hatten die Verfolgung fortgesetzt. Nach dem Ende der gestrigen Schlafperiode hatte Imnak ein zweites mit Fischbein präpariertes Fleischstück hinter den Schlitten geworfen. Das aggressivere der beiden verfolgenden Tiere verschlang den Brocken. Es starb eine Ahn später, noch immer auf unserer Spur. Das letzte Tier, das zurückhaltender zu sein schien, hockte sich daneben nieder. Es wartete, bis das andere Tier sich nicht mehr rührte, ehe es zu fressen begann. Als wir nach der letzten Schlafperiode erwacht waren und den Sleen eingespannt harten, warf Imnak ein weiteres präpariertes Fleischstück aus. Als wir einige Ahn später den verblüfften Schmerzensschrei eines Tieres vernahmen, wandte sich Imnak um.
»Beeilt euch!« sagte er. »Es ist Fleisch!«
Das Tier lag mit geöffneten Augen starr auf dem Eis. Es mußte schreckliche Qualen erleiden. Es widersetzte sich unseren Speeren nicht. »Wir bauen jetzt unseren Unterschlupf«, sagte Imnak.
Wie schon öfter hatte er eine geeignete Schneewehe gefunden und begann Blöcke herauszuschneiden. Es dauerte nicht lange, bis er das iglu-ähnliche Bauwerk vollendet hatte; er kam zu mir ins Freie, während die Mädchen drinnen das Abendessen vorbereiteten.
»Wir sind die Sleen los«, sagte ich zu ihm.
»Es ist nicht anzunehmen, daß Sleen, neue Sleen, so weit aufs Eis herauskommen«, sagte er.
»Dann haben wir ja wenig zu befürchten.«
»Allerdings befinden wir uns im Reich der Eis-Ungeheuer.«
»Ich habe seit mehreren Schlafperioden keins mehr gesehen«, stellte ich fest.
»Gehen wir hinein«, sagte er. »Die Nacht wird kalt.«
Ich lächelte vor mich hin. Die Temperatur war bereits mindestens sechzig Grad unter Null.
Ich blickte zum Himmel empor, auf zahlreiche Lichtstreifen und –vorhänge, die bestimmt hundert Meilen hoch waren. Es handelte sich um atmosphärische Erscheinungen, ausgelöst durch elektrisch geladene Partikel von der Sonne, die auf die Ausläufer der Atmosphäre treffen. In dieser Jahreszeit trat so etwas allerdings selten auf, eher in den Perioden der Herbst- und Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche. Bei anderem Licht können diese Vorhänge und Streifen violett oder rot oder orangerot aussehen. Ein wunderschöner Anblick, dieser elektrische Sturm, der viele Millionen Meilen weit durch das All gezogen war und nun über eine Atmosphäre herabrieselte. Auf der Erde wird dieses Phänomen Nordlicht oder Aurora Borealis genannt. Natürlich ereignet es sich auch im Süden, jenseits des südlichen Polarkreises.
Ich rief Arlene zu mir, und sie kam ins Freie, gefolgt von Audrey. Eine Zeitlang beobachteten wir wortlos die Lichter. Dann gab ich den beiden durch Zeichen zu verstehen, daß sie ins Iglu zurückkehren sollten.
Einige Ahn später lag Arlene in meinen Armen. »Es war wunderschön«, sagte sie. »Die Nacht ist so still draußen. Wie schön der Norden sein kann!«
»Ja«, sagte ich. Es war sehr still, sehr friedlich.
»Was ist das?« fragte sie plötzlich.
»Imnak!« rief ich.
»Ich höre es«, sagte er.
Wir lauschten mit angehaltenem Atem. Eine Zeitlang war nichts zu hören. Dann knirschten Schnee und Eis außerhalb der Eismauern. Jemand war dort draußen.
»Ein Sleen?« fragte ich.
»Hör doch!« sagte er.
»Nein«, sagte ich. »Das Wesen geht auf zwei Füßen.«
Nach einer Weile war das Geräusch verhallt. Ich hörte, wie Imnak den Dolch in die Scheide steckte. Auch ich legte meine Waffe fort.
»Ich gehe hinaus«, sagte ich.
Vorsichtig zog ich meine Felle an. Die äußere Parka zog ich aus dem langen Eingangstunnel. Dieser Eingang war so gestaltet, daß kein äußerer Windhauch direkt ins Innere gelangen konnte. Im Allgemeinen ist es ratsam, das Fell der schweren Parka am Eingang liegenzulassen, wo es kälter ist. Ehe man sich bückt und durch den Eingang kriecht, bürstet man sich natürlich den Schnee von der Kleidung; trotzdem bleiben Überreste, die im Inneren schmelzen und das Kleidungsstück durchfeuchten würden. Wenn die Lampe dann ausgeht, könnte die Parka frieren und steif werden. Es ist besser, wenn ein Pelz nicht dem ständigen Zyklus des Feuchtwerdens und Gefrierens ausgesetzt ist, außerdem ist die Parka ziemlich groß für das Trockengestell, das im allgemeinen für kleinere Gegenstände wie Stiefel und Handschuhe verwendet wird. Und schließlich läßt sich eine Parka auch leichter anziehen, wenn sie nicht steifgefroren am Boden liegt.
Geduckt schob ich mich dem Ausgang entgegen. Das Dach des Ausgangstunnels war innen etwa einen Meter hoch. Normalerweise wird innen noch ein Lederzelt in den Iglu gehängt, an Pflöcken, die von außen auf dem gerundeten Dach verankert sind. Dies schirmt noch besser gegen die Kälte ab. In dieser Schlafperiode jedoch hatten wir das Zelt nicht aufgestellt; allerdings hing vor dem Ausgang eine Felljacke.
Vorsichtig kroch ich durch den breiter werdenden Tunnel. Hinter mir hörte ich Imnak.
Draußen schob ich vorsichtig die Schneeblöcke zur Seite, die lose den Eingang versperrten. Man versiegelt den Iglu nicht, was sehr gefährlich sein kann: man braucht eine gute Lüftung, besonders, wenn die Lampen brennen.
Als ich mich aus der Öffnung schob, hatte ich das Messer in der Hand. Vorsichtig sah ich mich um. Gleich darauf richtete sich Imnak lauernd neben mir auf.
Es schien alles ruhig zu sein.
Poalu und Arlene und Audrey krochen ebenfalls ins Freie.
Noch immer zuckte das Nordlicht am Himmel.
Während die Mädchen am Eingang blieben, erkundeten Imnak und ich mit gezogenen Messern die unmittelbare Umgebung.
»Nichts«, sagte ich zu Imnak. »Dabei war bestimmt etwas hier, wir haben es doch deutlich gehört.«
»Hast du Spuren gefunden?« fragte Arlene.
»Nein.«
»Das Eis ist hart«, stellte Imnak fest.
»Aber es war etwas hier«, sagte ich.
»Ja«, meinte Imnak.
»Das oder der Unbekannte ist fort«, sagte ich und sah mich um. Wir steckten unsere Messer ein.
»Vielleicht war es doch nichts«, sagte Arlene. »Vielleicht habt ihr nur das Eis oder den Wind gehört.«
»Nein«, sagte ich. »Wir hatten Besuch.«
»Aii!« schrie Imnak plötzlich auf und deutete zum Himmel. Arlene fiel in seinen Schrei ein.
Die Lichter am Himmel, jene vage schimmernden, sich verschiebenden Lichterscheinungen, hundert Meilen hoch, stellten vorübergehend das riesige, abstoßende Gesicht eines Kur dar.
Schweigend starrte Imnak auf die Erscheinung, und ich machte es ihm nach. Arlene stand neben mir und klammerte sich an meinem Arm fest.
Kein Zweifel – am Himmel strahlte eindeutig das Gesicht eines Kur. Der Umriß war struppig. Die Augen schienen zu lodern, als brenne Feuer darin. Die Nüstern waren gebläht, das Maul wies zahlreiche Reißzähne auf. Dann wurden die Lippen zurückgezogen, beim Kur das Zeichen, daß er sich auf etwas freut oder über etwas amüsiert. Im nächsten Augenblick lagen die Ohren dicht am Kopf. Schließlich verschwand das Licht, wobei die Augen bis zuletzt blieben. Doch ehe sich die Ohren anlegten, sah ich, daß eines von ihnen, das linke, halb abgerissen war. Schließlich waren sämtliche Lichterscheinungen verschwunden, vor uns lagen nur die Sterne und die Polarnacht.