»Dann verlangen Sie, daß sie auch mit Ihnen zusammenarbeiten.«
»Dann könnten sie von uns anderes verlangen. Das können wir nicht.«
»Alles Lügner!« Marie wandte sich angewidert ab.
»Ich habe Sie nicht belegen, Mrs. Webb.«
»Warum glaube ich Ihnen eigentlich nicht, warum habe ich kein Vertrauen zu Ihnen, Mr. McAllister?« fragte David.
»Wahrscheinlich, weil Sie kein Vertrauen zu Ihrer Regierung haben, Mr. Webb. Und auch wenig Anlaß dazu. Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich ein Gewissen habe. Das können Sie akzeptieren oder nicht - Sie können mich akzeptieren oder nicht. Aber ich werde dafür sorgen, daß Ihnen nichts geschieht.«
»Sie sehen mich so eigenartig an - warum?«
»Weil ich noch nie in einer solchen Lage war.«
Die Türglocke schlug an, und Marie schüttelte den Kopf, stand auf und ging schnell durchs Zimmer und in den Vorraum hinaus. Sie öffnete die Tür. Einen Augenblick lang hielt sie den Atem an und starrte hilflos auf die zwei Männer, die ihr gegenüberstanden. Jeder hielt ein Plastiketui mit einer silbernen Plakette in der Hand, auf der ein Adler eingeprägt war, in dem sich das Licht der Kutschenlampen rieben der Tür spiegelte. Auf der Straße stand eine dunkle Limousine, in der man die Silhouetten weiterer Männer erkennen konnte, und das Glühen von Zigaretten - weitere Männer, weitere Bewacher. Sie wollte schreien, aber sie tat es nicht.
Edward McAllister stieg in seinen Dienstwagen und blickte durch das geschlossene Fenster auf David Webb unter der Tür. Der ehemalige Jason Borowski stand reglos da, und seine Augen blickten starr seinem Besucher nach.
»Verschwinden wir hier«, sagte McAllister zu dem Fahrer, einem Mann mit Stirnglatze, der etwa so alt war wie er und eine Hornbrille trug.
Der Wagen setzte sich langsam in Bewegung und rollte vorsichtig über die schmale, von Bäumen gesäumte Straße, die nur eine Grundstücksbreite von dem felsigen Strand entfernt war.
Ein paar Minuten lang sagte keiner der beiden Männer ein Wort; schließlich fragte der Fahrer:
»Wie ist es denn gelaufen?«
»Wie es gelaufen ist?« antwortete der Mann aus dem Außenministerium.
»Der Botschafter würde vielleicht sagen: >Alle Figuren sind aufgestellt.< Das Fundament ist gelegt, die Missionsarbeit ist getan.«
»Das freut mich.«
»Wirklich? Dann freut es mich auch.« McAllister hob die rechte Hand; sie zitterte. Dann strichen seine dünnen Finger über die rechte Schläfe. »Nein, es freut mich nicht!« sagte er plötzlich. »Mir ist speiübel!«
»Das tut mir leid -«
»Und weil wir schon von Missionsarbeit sprechen, ich bin ein Christ. Will sagen: ich glaube - nichts, was so schick ist, daß ich ein Eiferer wäre oder an die Wiedergeburt glaubte oder daß ich in der Sonntagsschule lehre oder in der Kirche auf den Knien liege, aber ich glaube. Meine Frau und ich gehen wenigstens zweimal im Monat in die Episkopalkirche, und meine zwei Söhne sind Ministranten. Ich bin großzügig, weil ich das sein möchte. Können Sie das verstehen?«
»Sicher. Ich empfinde nicht so wie Sie, aber ich kann das verstehen.«
»Aber ich bin gerade aus dem Haus dieses Mannes herausgegangen!«
»He, immer mit der Ruhe! Was ist denn?«
McAllister sah starr geradeaus, und die Scheinwerfer der entgegenkommenden Fahrzeuge huschten über sein Gesicht. »Gott sei meiner Seele gnädig«, flüsterte er.
Kapitel 4
Plötzlich erfüllten Schreie die Dunkelheit, eine näherkommende, anschwellende Kakophonie brüllender Stimmen. Und dann waren sie von rennenden, stampfenden Gestalten mit verzerrten Gesichtern umgeben. Webb ließ sich auf die Knie fallen, schützte, so gut er konnte, Gesicht und Hals mit den Händen, zuckte hin und her, um kein festes Ziel zu bieten. Er trug einen dunklen Anzug, das war im Schatten ein Vorteil, würde aber nichts nützen, wenn jemand einen Feuerstoß auf ihn abgab und dabei wenigstens einen der Leibwächter mitnahm. Aber ein Killer entschied sich nicht immer für Kugeln. Es gab Bolzen - tödliche Giftnadeln, die aus Luftdruckwaffen abgefeuert wurden und binnen Minuten den Tod brachten, wenn nicht in Sekunden.
Eine Hand packte ihn an der Schulter. Er fuhr herum, hob den Arm, entzog sich der Hand, indem er einen Schritt zur Seite tat, und kauerte sich nieder wie ein Tier.
»Alles in Ordnung?« fragte der Leibwächter zu seiner Rechten und grinste im Widerschein seiner Taschenlampe.
»Was? Was ist passiert?«
»Ist es nicht großartig!« rief der Leibwächter zu seiner Linken und kam jetzt näher, während David sich erhob.
»Was?«
»Daß junge Leute sich so begeistern können. Man fühlt sich dabei richtig wohl, wenn man das sieht!«
Es war vorbei. Auf dem Universitätsgelände war wieder Stille eingetreten, und in der Ferne, zwischen den Gebäuden, die an die Übungsplätze und das Stadion grenzten, konnte man zwischen den Ehrentribünen die zuckenden Flammen eines Freudenfeuers sehen. Die Siegesfeier war voll im Gang, und seine Leibwächter lachten.
»Und wie steht's mit Ihnen, Herr Professor?« fuhr der Mann zu seiner Linken fort. »Fühlen Sie sich jetzt wohler, wo wir hier sind, und so?«
Es war vorbei. Der Wahnsinn war vorbei. Aber warum pochte dann sein Herz so schnell? Warum war er so verwirrt, so verängstigt? Irgend etwas stimmte nicht.
»Warum stört mich diese ganze Parade?« sagte David beim Frühstückskaffee in der Nische ihres alten viktorianischen Mietshauses.
»Deine Spaziergänge am Strand fehlen dir«, sagte Marie und legte ihrem Mann das pochierte Ei auf die Scheibe Toast. »Iß das, bevor du deine Zigarette rauchst.«
»Nein, wirklich. Mich stört das. Die ganze letzte Woche war ich wie eine Ente auf dem Schießstand. Gestern nachmittag ist mir das aufgegangen.«
»Wie meinst du das?« Marie goß das Wasser aus und legte die Pfanne in den Ausguß, ohne dabei Webb aus den Augen zu lassen. »Sechs Männer sind um dich herum, vier an deinen >Flanken<, wie du gesagt hast, und zwei, die sich vor und hinter dir alles genau ansehen.«
»Eine Parade.«
»Warum Parade?«
»Ich weiß nicht. Jeder an seinem Platz, und alle marschieren im Takt, den die Trommeln schlagen. Ich weiß nicht.«
»Aber du hast eine Ahnung?«
»Ich glaube schon.«
»Dann sag es mir. Die Ahnungen, die du manchmal hast, haben mir am Guisan Quai in Zürich das Leben gerettet. Ich würde es gerne hören - nun, vielleicht auch nicht, aber es ist wahrscheinlich besser.«
Webb stach den Eidotter auf dem Toast auf. »Weißt du, wie leicht es für jemanden wäre - jemanden, der so jung wie ein Student aussieht-, irgendwo an mir vorbeizugehen und mit einer Luftdruckpistole einen Bolzen auf mich abzuschießen? Das Geräusch könnte er mit einem Husten überdecken oder einem Lachen, und schon hätte ich hundert Kubikzentimeter Strychnin im Blut.«
»Du weißt über solche Dinge viel mehr als ich.«
»Natürlich. Weil ich es so machen würde.«
»Nein. Weil Jason Borowski es so machen würde, nicht du.«
»Na schön, dann projiziere ich das eben auf ihn. Aber das ändert nichts an dem Gedanken.«
»Was ist denn gestern nachmittag passiert?«
Webb spielte mit dem Ei und dem Toast auf seinem Teller. »Das Seminar hat sich in die Länge gezogen. Es wurde schon dunkel, und meine Wachen schlössen sich mir an. Wir gingen über das Feld zum Parkplatz. Es war eine Siegesfeier für ein Footballspiel - unser harmloses Team gegen irgendein anderes harmloses Team. Die Menge rannte an uns vier vorbei, junge Leute, die zu einem Freudenfeuer hinter den Tribünen wollten. Sie schrien und brüllten und putschten sich gegenseitig auf. Und ich dachte, jetzt ist es soweit. Jetzt passiert es, wenn es überhaupt passiert. Glaub mir, in jenen paar Augenblicken war ich Borowski. Ich kauerte mich nieder und beobachtete jeden, den ich sehen konnte - ich war dabei durchzudrehen.«