»Büro von Mr. McAllister«, sagte eine Frauenstimme.
»Ich dachte, das sei seine Direktleitung. So hat man es mir auch gesagt!«
»Mr. McAllister ist nicht in Washington, Sir. Wir haben Anweisung, in solchen Fällen die Anrufe entgegenzunehmen und zu notieren.«
»Wo ist er?«
»Das weiß ich nicht, Sir. Ich bin vom Zentralsekretariat. Er ruft jeden Tag einmal an. Darf ich ihm sagen, wer ihn sprechen wollte?«
»Das reicht nicht! Mein Name ist Webb, Jason Webb ... Nein, David Webb! Ich muß ihn sofort sprechen! Jetzt gleich!«
»Ich verbinde Sie mit der Abteilung, die seine dringenden Gespräche annimmt ...«
Webb knallte den Hörer aufs Telefon. Er hatte McAllisters Privatnummer; er wählte.
»Ja?« Wieder eine Frauenstimme.
»Mr. McAllister bitte.«
»Er ist leider nicht hier. Wenn Sie Ihren Namen und Ihre Telefonnummer hinterlassen wollen, gebe ich sie ihm.«
»Wann?«
»Nun, er wollte morgen oder übermorgen hier anrufen. Das tut er immer.«
»Sie müssen mir die Nummer geben, wo er jetzt ist, Mrs. McAllister! Ich nehme an, Sie sind Mrs. McAllister.«
»Das will ich doch hoffen. Seit achtzehn Jahren. Wer sind Sie?«
»Webb. David Webb.«
»O natürlich! Edward spricht zu Hause selten über berufliche Dinge - und in Ihrem Fall hat er das auch nicht getan -, aber er hat mir erzählt, was für furchtbar nette Leute Sie und Ihre Frau sind. Unser ältester Sohn, er ist noch auf dem Gymnasium, interessiert sich sehr für Ihre Universität. Im letzten Jahr sind seine Noten ein wenig schlechter geworden. Aber ich bin sicher, bis es soweit ist, wird er ...«
»Mrs. McAllister!« unterbrach sie Webb. »Ich muß Ihren Mann erreichen! Jetzt!«
»Oh, das tut mir schrecklich leid, aber ich glaube wirklich nicht, daß das möglich ist. Er ist im Fernen Osten, und ich habe natürlich keine Nummer, wo ich ihn dort erreichen kann. In Notfällen rufen wir immer das Außenministerium an.«
David legte auf. Er mußte Marie warnen - anrufen. Die Leitung mußte inzwischen frei sein; sie war fast eine Stunde belegt gewesen, und es gab niemanden, mit dem seine Frau eine Stunde lang telefoniert, auch nicht mit ihrem Vater, ihrer Mutter oder ihren beiden Brüdern in Kanada. Sie liebte sie alle sehr, aber ihre Lebensart war ihr fremd. Sie war weder so frankophil wie ihr Vater, noch ein Heimchen wie ihre Mutter, und obwohl sie ihre Brüder bewunderte, war sie ganz anders als diese grobschlächtigen Rancher. Sie hatte für sich ein anderes Leben gefunden, in Wirtschaftskreisen, mit ihrem Doktortitel und den Arbeiten, die sie für die kanadische Regierung geleistet hatte. Und am Ende hatte sie einen Amerikaner geheiratet.
Quel dommage.
Die Leitung war immer noch belegt! Herrgott, Marie!
Dann erstarrte Webb förmlich, sein ganzer Körper war einen Augenblick lang wie gelähmt! Er konnte sich kaum bewegen, riß aber alle Kräfte zusammen, raste aus seinem kleinen Büro, den Korridor hinunter, so schnell, daß zwei Studenten gegen die Wände taumelten und ein dritter gerade noch ausweichen konnte; plötzlich war er wie ein Besessener. Als er sein Haus erreichte, trat er auf die Bremse, daß die Reifen quietschten, sprang aus dem Wagen und rannte auf die Tür zu. Er blieb stehen, die Augen weit aufgerissen und plötzlich atemlos. Die Tür war offen, und auf dem eingedrückten Türblatt war ein roter Händabdruck - Blut.
Webb rannte hinein, stieß alles aus seinem Weg. Möbel krachten und Lampen zersplitterten, während er das Erdgeschoß durchsuchte. Dann hetzte er die Treppe hinauf, und jeder Nerv in ihm wartete auf ein Geräusch, und sein Killer-Instinkt war ihm ebenso klar wie die roten Flecken, die er an der Haustür gesehen hatte. In diesem Augenblick war er die Killermaschine -das tödliche Tier -, das Jason Borowski gewesen war. Und diese Tatsache akzeptierte er voll. Wenn seine Frau oben war, würde er jeden töten, der versucht hatte, ihr etwas anzutun - oder das bereits getan hatte.
Auf dem Boden liegend, schob er die Schlafzimmertür auf.
Die Explosion zerfetzte die Korridorwand. Er wälzte sich zur gegenüberliegenden Seite; er hatte keine Waffe, aber ein Feuerzeug hatte er. Er griff in die Hosentasche nach den Notizen, wie alle Lehrer sie machen, knüllte die Blätter zusammen, warf sich nach links und schnippte das Feuerzeug an; die Flamme war sofort da. Er warf den brennenden Papierknäuel ins Schlafzimmer, preßte sich mit dem Rücken gegen die Wand und schob sich vom Boden hoch. Sein Kopf fuhr herum, suchte die zwei anderen geschlossenen Türen in dem schmalen Obergeschoß. Plötzlich trat er zu, ein Krachen, noch eines, dann warf er sich wieder zu Boden und rollte sich in den schützenden Schatten zurück.
Nichts. Die zwei Räume waren leer. Wenn ein Feind da war, dann war er im Schlafzimmer. Aber inzwischen brannte der Bettüberwurf. Die Flammen züngelten schon zur Decke. Nur noch Sekunden.
Jetzt!
Er stürzte sich ins Zimmer, packte die brennenden Fetzen und schwang sie im Kreis, während er sich duckte und sich dann auf dem Boden wälzte, bis der Stoff nur noch Asche war - er wartete die ganze Zeit, daß ihn etwas Eiskaltes an der Schulter oder am Arm traf, und wußte zugleich, daß er damit fertig werden und seinen Feind erledigen konnte. Herrgott! Er war wieder Jason Borowski.
Da war nichts. Seine Marie war nicht da; da war nichts als eine primitive Vorrichtung mit einem Faden zu einer
Schrotflinte, die auf die Tür gerichtet war, für einen sicheren Treffer. Er stampfte die Flammen aus, sprang mit einem Satz zu einer Tischlampe und knipste sie an.
Marie! Marie!
Und dann sah er es. Ein Blatt Papier, das auf ihrer Bettseite auf dem Kissen lag.
»Eine Frau für eine Frau, Jason Borowski. Sie ist verwundet, aber nicht tot wie die meine. Sie wissen, wo Sie mich finden können, und sie auch, wenn Sie vorsichtig sind und Glück haben. Vielleicht kommen wir ins Geschäft, denn ich habe auch Feinde. Wenn nicht, was macht dann schon der Tod einer weiteren Tochter aus?«
Webb schrie auf, ließ sich auf die Kissen fallen und versuchte, die Wut und den Schrecken zurückzudrängen, die aus seiner Kehle hervorquollen, schob den Schmerz zurück, der in seinen Schläfen pulste. Dann drehte er sich um und starrte zur Decke, und eine schreckliche, dumpfe Lethargie übermannte ihn. Bilder, an die er sich seit langer Zeit nicht mehr erinnert hatte, kamen plötzlich wieder - Bilder, die er nicht einmal Morris Panov offenbart hatte. Körper, die unter seinem Messer zusammenbrachen, unter seinen Schüssen fielen - das waren keine eingebildeten Morde, sie waren echt. Menschen hatten ihn zu dem gemacht, was er war, aber sie hatten ihren Auftrag hervorragend ausgeführt. Er war der Mann geworden, den es nicht hätte geben dürfen. Doch er hatte keine andere Wahl gehabt. Er hatte überleben müssen - ohne zu wissen, wer er war.
Und jetzt kannte er die zwei Männer in ihm, die zusammen sein Wesen ausmachten. An den einen würde er sich immer erinnern, weil er es war, der er sein wollte, aber im Augenblick mußte er der andere sein - der Mann, den er verabscheute.
Jason Borowski erhob sich vom Bett und ging zu dem begehbaren Kleiderschrank und zu der verschlossenen dritten Schublade in der eingebauten Kommode. Er griff über sich und zog das Klebeband von einem Schlüssel an der Decke. Er schob ihn ins Schloß und zog die Schublade heraus. In der Schublade lagen zwei zerlegte Pistolen, vier Schlingen aus dünnem Draht auf Spulen, die er in der Hand verbergen konnte, drei Pässe auf drei verschiedene Namen, und sechs Ladungen Plastiksprengstoff, mit denen man ganze Zimmer in die Luft jagen konnte. Eine oder alle sechs würde er benutzen. David Webb würde seine Frau finden. Oder Jason Borowski würde zu dem Terroristen werden, von dem sich keiner je hätte träumen lassen. Ihm war es gleichgültig - man hatte ihm zu viel weggenommen. Mehr würde er nicht ertragen.