»Was für ein abgedroschener Ausdruck«, sagte der Analytiker und lachte spöttisch. »Was bedeutet er eigentlich? Daß man Sie in die Irre geführt hat, daß Sie einen belanglosen Fehler begangen haben, der doch Konsequenzen hatte? In der Politik geht es nicht darum, daß ein einzelner sich in eine peinliche Situation gebracht hat. Das Geschrei der Leute nach Rechtschaffenheit widert mich immer wieder an, wo die meisten doch gar keine Vorstellung davon haben, wie wir vorgehen müssen.«
»Vielleicht wollen die Leute hie und da einfach nur eine ehrliche Antwort.«
»Die können sie nie kriegen«, sagte McAllister, als sie auf die Tür des Cafes zugingen, »weil sie die nicht verstehen könnten.«
Borowski blieb vor der Tür stehen. »Sie sind blind«, sagte er, und sein Blick bohrte sich in den des Staatssekretärs. »Man hat mir auch keine ehrliche Antwort gegeben, geschweige denn eine Erklärung. Sie sind zu lange in Washington gewesen. Sie sollten es einmal mit ein paar Wochen in Cleveland probieren oder mit Bangor, Maine. Das könnte Ihnen andere Perspektiven verschaffen.«
»Halten Sie mir keine Vorträge, Mr. Borowski. Weniger als sechsundvierzig Prozent unserer Bevölkerung sind daran interessiert, ihre Stimme bei der Wahl abzugeben - und bei dieser Wahl wird entschieden, welche Richtung unser Land einschlagen soll. Das bleibt alles uns überlassen - den Wichtigtuern und den professionellen Bürokraten. Wir sind alles, was ihr habt... Können wir jetzt bitte hineingehen? Ihr Freund Mr. Wong hat gesagt, wir sollten nur kurz drin bleiben, Kaffee trinken und dann wieder auf die Straße gehen. Er hat gesagt, er würde uns in genau fünfundzwanzig Minuten treffen, und zwölf davon sind bereits verstrichen.«
»Zwölf? Nicht zehn oder fünfzehn, sondern zwölf?«
»Exakt.«
»Was tun wir, wenn er sich um zwei Minuten verspätet? Erschießen wir ihn dann?«
»Sehr komisch«, sagte der Analytiker und stieß die Tür auf.
Sie verließen das Cafe und traten hinaus auf das dunkle, abgetretene Pflaster an der Grenzstation von Guangdong. Da an der Grenze wenig Betrieb herrschte, waren höchstens ein Dutzend Leute zu sehen, die über die Grenze kamen und in der
Finsternis verschwanden. Von den drei Straßenlampen in der unmittelbaren Umgebung funktionierte nur eine und verstrahlte ihr schwaches Licht. Die Sicht war schlecht. Fünfundzwanzig Minuten verstrichen, dehnten sich zu dreißig, wurden schließlich achtunddreißig. Jetzt sprach Borowski.
»Irgend etwas stimmt nicht. Er hätte inzwischen Kontakt aufnehmen sollen.«
»Zwei Minuten Verspätung, und wir erschießen ihn?« sagte McAllister, und dann mißfiel ihm sofort sein Versuch, witzig zu sein. »Ich meine, ich habe den Eindruck gewonnen, alles käme darauf an, ruhig zu bleiben.«
»Wenn es um zwei Minuten geht, aber nicht um fast fünfzehn«, erwiderte Jason. »Das ist nicht normal«, fügte er leise hinzu, wie im Selbstgespräch. »Andererseits könnte es ganz normal abnormal sein. Er möchte, daß wir Kontakt mit ihm aufnehmen.«
»Ich verstehe nicht -«
»Das brauchen Sie nicht. Gehen Sie einfach neben mir her, so als würden wir planlos dahinschlendern, um uns die Zeit zu vertreiben, bis man uns abholt. Wenn sie uns sieht, wird die Damenringkämpferin nicht überrascht sein. Chinesische Beamte kommen notorisch zu spät; sie haben das Gefühl, daß ihnen das einen Vorteil einbringt.«
»>Laß sie schwitzen?««
»Genau. Nur daß wir uns jetzt nicht mit dem treffen, der das gesagt hat. Kommen Sie, gehen wir nach links; dort ist es dunkler. Geben Sie sich ganz locker; reden Sie über das Wetter, irgend etwas. Nicken Sie, schütteln Sie den Kopf, zucken Sie die Achseln - lauter ganz unauffällige Bewegungen.«
Sie gingen etwa fünfzehn Meter weit, und dann geschah es. »Kam Pek!« Der Name des Casinos klang im Flüsterton aus den Schatten hinter einem verlassenen Zeitungsstand.
»Wong?«
»Bleiben Sie, wo Sie sind, und tun Sie so, als würden Sie sich unterhalten, aber hören Sie mir zu!«
»Was ist geschehen?«
»Man folgt Ihnen.«
»Zwei Punkte für einen superschlauen Bürokraten«, sagte Jason. »Haben Sie einen Kommentar, Herr Staatssekretär?«
»Das kommt unerwartet, ist aber nicht unlogisch«, antwortete McAllister. »Eine Sicherheitsmaßnahme vielleicht. Wie wir wissen, wimmelt es hier ja von falschen Pässen.«
»Aber die Ringerin hat uns doch schließlich überprüft.«
»Dann ist das vielleicht, um sicherzustellen, daß wir uns nicht mit der Art von Leuten zusammentun, die Sie gestern nacht vorgeschlagen haben«, flüsterte der Analytiker, so leise, daß der chinesische V-Mann ihn nicht hören konnte.
»Das wäre möglich.« Borowski hob die Stimme etwas, so daß der V-Mann ihn verstand. Er sah zu der Grenze hinüber. Dort war niemand zu sehen. »Wer folgt uns?«
»Das Schwein.«
»Soo?«
»Ganz richtig, Sir. Deshalb darf ich mich auch nicht blicken lassen.«
»Sonst noch jemand?«
»Niemand, den ich sehen könnte, aber ich weiß nicht, wer auf der Straße zu den Bergen wartet.«
»Ich werde ihn erledigen«, sagte der Mann von Medusa, der einmal Delta geheißen hatte.
»Nein!« wandte McAllister ein. »Er hat vielleicht Anweisung von Sheng, sicherzustellen, daß wir allein bleiben, daß wir uns nicht mit anderen treffen. Sie haben gerade selbst gesagt, daß das möglich sei.« »Das könnte er nur, indem er selbst andere kontaktiert. Das kann er nicht ... wenn er es nicht kann. Und Ihr alter Freund würde ganz bestimmt keinen Funkkontakt zulassen, solange er in einem Flugzeug oder einem Helikopter sitzt. Der könnte angepeilt werden.«
»Und wenn spezielle Signale verabredet sind - eine Leuchtrakete zum Beispiel, oder eine nach oben gerichtete Taschenlampe, um dem Piloten zu sagen, daß alles klar ist?«
Jason sah den Analytiker an. »Sie denken wirklich alles zu Ende.«
»Es gibt eine Möglichkeit«, sagte Wong aus dem Schatten heraus, »und das ist ein Privileg, das ich mir selbst vorbehalten möchte, ohne Aufpreis.«
»Was für ein Privileg?«
»Ich werde das Schwein töten. Es wird in einer Art und Weise geschehen, die Sie nicht kompromittiert.«
»Was?« Der erstaunte Borowski wollte sich umdrehen.
»Bitte, Sir! Sie müssen geradeaus sehen.«
»Entschuldigung. Aber warum?«
»Er treibt wahllos Unzucht und bedroht die Frauen, die er beglückt, damit, daß sie und ihre Männer ihre Stellungen verlieren, und ihre Brüder und Vettern auch. In den letzten vier Jahren hat er über viele Familien Schande gebracht, darunter auch über die Familie meiner Mutter.«
»Warum hat man ihn nicht schon lange umgebracht?«
»Er ist immer mit bewaffneten Wachen unterwegs, selbst in Macao. Trotzdem sind schon einige Attentate auf ihn verübt worden. Aber die haben jedesmal zu Repressalien geführt.«
»Repressalien?« fragte McAllister leise.
»Leute wurden verhaftet, wiederum wahllos, und man warf ihnen vor, sie hätten Vorräte und Material aus der Garnison gestohlen. Die Strafe für derartige Verbrechen ist Tod durch Genickschuß in den Feldern.«
»Heiland«, murmelte Borowski. »Ich werde keine Fragen stellen. Sie haben Grund genug. Aber wie wollen Sie es anstellen?«
»Er hat diesmal keine Wachen bei sich. Vielleicht warten sie auf der Straße in die Berge auf ihn. Aber jetzt sind sie nicht bei ihm. Sie setzen sich in Bewegung, und wenn er Ihnen folgt, werde ich ihm folgen. Wenn er Ihnen nicht folgt, werde ich wissen, daß Ihre Reise nicht unterbrochen werden wird, dann werde ich nachkommen.«
»Nachkommen?« Borowski runzelte die Stirn.