»Das ist verrückt, und das wissen Sie auch! Alles Lügen!«
»Verrückt ist ein hartes Wort, Mr. Webb, und die Lügen kommen nicht von mir. Aber es ist meine Aufgabe, unsere Regierung vor falschen Beschuldigungen zu schützen und vor Verleumdungen, die dem Land schweren Schaden zufügen könnten.«
»Falsche Beschuldigungen?«
»Ihre Sekundärphantasie hinsichtlich einer unbekannten Organisation, die Sie Medusa nennen. Ich bin nun sicher, daß Ihre Frau zu Ihnen zurückkommen wird - wenn sie das kann, Mr. Webb. Aber wenn Sie weiterhin auf diesen Phantasievorstellungen beharren und sich auf dieses Produkt Ihres gequälten Bewußtseins fixieren, das Sie Medusa nennen, werden wir Sie zu einem paranoiden Schizophrenen erklären, zu einem pathologischen Lügner, der zu unkontrollierten Gewalttätigkeiten und Selbsttäuschungen neigt. Und wenn ein solcher Mann die Behauptung aufstellt, seine Frau sei verschwunden, wer weiß dann schon, wo eine solche pathologische Reise hinführen könnte? Drücke ich mich klar aus?«
David schloß die Augen, und der Schweiß rann ihm übers Gesicht. »Glasklar«, sagte er leise und legte auf.
Paranoid ... pathologisch. Diese Schweine! Er schlug die Augen auf und hätte am liebsten seine Wut dadurch abreagiert, daß er sich gegen irgend etwas warf, irgend etwas! Dann aber verhielt er wie erstarrt. Ja, das war es! Warum hatte er nicht gleich daran gedacht! Morris Panov! Mo Panov würde die drei Ungeheuer schon auf den richtigen Nenner bringen. Lügner, unfähig, einzig und allein darauf bedacht, eine korrupte Bürokratie zu schützen, um damit dem eigenen Nutzen zu dienen - und wahrscheinlich noch viel, viel Schlimmeres. Er griff nach dem Telefon und wählte mit zitternden Fingern die Nummer, die ihm in der Vergangenheit so oft eine beruhigende, rationale Stimme gebracht hatte, die ihm das Gefühl gab, etwas wert zu sein, auch wenn er das Gefühl gehabt hatte, es gebe nur noch wenig in ihm, das den geringsten Wert besaß.
»David, schön von Ihnen zu hören«, sagte Panov, und dabei ging ein echtes Gefühl der Wärme von ihm aus.
»Ich fürchte, das ist es nicht, M). Das ist der schlimmste Anruf bei Ihnen, den ich je geführt habe.«
»Kommen Sie, David, das klingt aber recht dramatisch. Schließlich haben wir eine ganze Menge -«
»Hören Sie mir zu!« schrie Webb. »Sie ist verschwunden! Sie haben sie weggeholt!« Und dann sprudelten die Worte aus ihm heraus, in wirrem Durcheinander.
»Hören Sie auf, David!« befahl Panov. »Fangen Sie ganz vorne an. Ich möchte es von Anfang an hören. Als dieser Mann Sie aufgesucht hat - nach den Erinnerungen an Ihren Bruder ...«
»Welcher Mann?«
»Vom Außenministerium.«
»Ja! Richtig, ja McAllister, so hieß er.«
»Beginnen Sie dort. Namen, Titel, Ämter. Und den Namen des Bankiers in Hongkong will ich auch wissen. Und jetzt beruhigen Sie sich erst mal, um Himmels willen!«
Wieder umklammerte Webbs linke Hand das rechte Handgelenk und den Telefonhörer. Er fing noch einmal an, zwang dem, was er sagte, eine krampfhafte Beherrschung auf; seine Stimme wurde angespannt, seltsam ausdruckslos, und wurde dann doch wieder schneller. Schließlich schaffte er es, alles herauszubekommen, alles, woran er sich erinnern konnte, und war sich zugleich voll Schrecken bewußt, daß er sich nicht an alles erinnert hatte. Da waren sie wieder, die schrecklichen Gedächtnislücken. Er hatte alles gesagt, was er im Augenblick sagen konnte; da war nichts übrig.
»David«, begann Mo Panov mit fester Stimme. »Ich möchte, daß Sie etwas für mich tun. Und zwar jetzt.«
»Was?«
»Für Sie klingt das vielleicht unsinnig, vielleicht sogar ein wenig verrückt, aber ich mache Ihnen einen Vorschlag, daß Sie jetzt zum Strand hinuntergehen und einen Spaziergang machen, am Ufer entlang. Eine halbe Stunde, fünfundvierzig Minuten, nicht mehr. Hören Sie auf die Brandung und auf die Wellen, die gegen die Felsen schlagen.«
»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!« protestierte Webb.
»Doch, absolut«, beharrte Mo. »Erinnern Sie sich, wie wir uns einmal darüber geeinigt haben, daß es Zeiten gibt, wo man seinen Verstand auf Leerlauf schalten sollte - ich tue das, weiß Gott, öfter als das ein einigermaßen angesehener Psychiater sollte. Es gibt Zeiten, da überwältigen uns die Dinge, und da ist es notwendig, daß wir aus dieser Verwirrung herauskommen, ehe wir etwas unternehmen. Tun Sie, worum ich Sie bitte, David. Ich melde mich, so schnell es geht, wieder bei Ihnen, höchstens in einer Stunde, denke ich. Und dann möchte ich, daß Sie ruhiger sind als jetzt.«
Es war wirklich verrückt, aber wie bei vielem, was Panov so ruhig und oft ganz beiläufig vorschlug, so war auch in diesen Worten viel Wahres. Webb ging den kalten, felsigen Strand hinunter und vergaß dabei keinen Augenblick lang, was geschehen war, aber ob es nun der Szenenwechsel war oder der Wind oder die endlosen, sich immer wiederholenden Geräusche des Meeres, jedenfalls registrierte er, daß sein Atem gleichmäßiger ging - immer noch so tief und so zitternd wie vorher, aber ohne Hysterie. Er sah auf die Uhr, das Leuchtzifferblatt, dem das Mondlicht zu Hilfe kam. Er war jetzt zweiunddreißig Minuten auf und ab gegangen; mehr konnte er nicht ertragen. Also kletterte er den schmalen Weg durch die grasbewachsenen Dünen wieder zur Straße hinauf und strebte seinem Haus zu, wobei er mit jedem Schritt schneller wurde.
Dann saß er vor seinem Schreibtisch, die Augen starr auf das Telefon gerichtet. Es klingelte; er nahm den Hörer ab, ehe der Ton verklungen war. »Mo?«
»Ja.«
»Dort draußen war es verdammt kalt. Ich danke Ihnen.«
»Ich danke Ihnen.«
»Was haben Sie in Erfahrung gebracht?«
Und dann fing der Alptraum an, sich auszuweiten.
»Seit wann ist Marie verschwunden, David?«
»Ich weiß nicht. Eine Stunde, zwei Stunden, vielleicht auch mehr. Warum ist das denn wichtig?«
»Könnte es sein, daß sie beim Einkaufen ist? Oder haben Sie sich vielleicht gestritten und sie wollte eine Weile für sich sein? Wir waren uns doch darüber einig, daß es für sie manchmal sehr schwierig ist - das haben Sie doch selbst gesagt.«
»Wovon, zum Teufel, reden Sie? Da war doch der Zettel! Blut, ein Handabdruck!«
»Ja, das haben Sie schon erwähnt, aber warum sollte jemand solche Spuren hinterlassen?«
»Woher soll ich das wissen! So ist es eben - sie haben es getan. Das ist doch alles hier!«
»Haben Sie die Polizei gerufen?«
»Du großer Gott, nein! Das ist doch nichts für die Polizei! Wir müssen uns darum kümmern, ich! Können Sie das nicht
verstehen? ... Was haben Sie herausgefunden? Warum reden Sie so?«
»Weil ich es muß. In allen Sitzungen, in all den Monaten, in denen wir miteinander geredet haben, haben wir einander immer die Wahrheit gesagt, denn Sie müssen ja schließlich die Wahrheit kennen!«
»Mo! Um Himmels willen, es geht um Marie!«
»Bitte, David, lassen Sie mich ausreden. Wenn die lügen -und das wäre nicht das erste Mal -, dann bringe ich das heraus, und dann werde ich sie bloßstellen. Ich könnte einfach nicht anders. Aber ich sage Ihnen jetzt genau, was die mir gesagt haben, was die Nummer zwei in der Fernost-Abteilung mir ganz klar gesagt hat und was mir der Chef der Sicherheitsabteilung des Außenministeriums vorgelesen hat. Er sagte, Sie hätten die Sicherheitsabteilung vor gut einer Woche angerufen und hätten sich in einem höchst erregten Zustand befunden.«