Kitiara warf Fürst Soth einen Blick zu und machte sich daran, das Zimmer zu verlassen. »Leb wohl, Bruder. Es tut mir leid, daß du nicht meinen Wunsch nach den guten Dingen in diesem Leben teilst! Wir könnten so viel gemeinsam unternehmen, du und ich!«
»Leb wohl, Kitiara«, sagte Raistlin. »Nebenbei bemerkt«, fügte er hinzu, als sie in der Tür stand, »ich verdanke dir mein Leben, teure Schwester. Zumindest wurde mir das gesagt. Du solltest nur wissen, daß mit dem Tod von Ariakas, der dich zweifellos getötet hätte, ich meine Schuld als bezahlt betrachte. Ich schulde dir nichts mehr!«
Kitiara starrte in die goldenen Augen des Magiers, suchte eine Drohung, ein Versprechen, was? Aber in ihnen war nichts. Absolut nichts. Und im nächsten Augenblick sprach Raistlin ein Zauberwort und verschwand vor ihren Augen.
Der Weg aus dem Eichenwald von Shoikan war nicht schwierig. Die Wächter kümmerten sich nicht um jene, die den Turm verließen. Kitiara und Fürst Soth gingen zusammen, der tote Ritter bewegte sich geräuschlos durch den Wald, seine Füße hinterließen keinen Abdruck auf den Blättern, die auf dem Boden lagen. Der Frühling erreichte nicht den Eichenwald von Shoikan.
Kitiara sprach erst, als sie die Bäume hinter sich gelassen hatten und wieder auf den soliden Pflastersteinen der Stadt Palanthas standen. Die Sonne ging auf, der Himmel wechselte seine Farbe von einem tiefen Nachtblau zu einem blassen Grau. Hier und dort erwachten Palanthianer, deren Beruf sie zum frühen Aufstehen zwang. Ganz unten an der Straße hinter den verlassenen Gebäuden, die den Turm umgaben, hörte Kitiara marschierende Schritte, die Wachablösung auf der Mauer. Sie befand sich wieder unter den Lebenden. Sie holte tief Luft, dann sagte sie zu Fürst Soth: »Er muß aufgehalten werden.«
Der tote Ritter antwortete nicht.
»Es wird nicht einfach sein, das weiß ich«, sagte Kitiara, setzte den Drachenhelm auf und ging schnell auf Skie zu, der seinen Kopf in Triumph erhoben hatte. Kitiara streichelte den Drachen liebevoll am Hals, dann wandte sie sich wieder dem toten Ritter zu. »Aber wir dürfen Raistlin nicht direkt entgegentreten. Sein Plan hängt von Crysania ab. Entferne sie, und wir halten ihn auf. Er braucht nicht zu wissen, daß ich etwas damit zu tun habe. Viele sind bei dem Versuch, den Wald von Wayreth zu betreten, gestorben. Stimmt das nicht?«
Fürst Soth nickte, seine Augen flackerten leicht.
»Du schaffst das schon. Laß es aussehen wie... Schicksal«, sagte Kitiara. »Mein kleiner Bruder glaubt offensichtlich daran.« Sie bestieg ihren Drachen. »Als er klein war, lehrte ich ihn, daß es Prügel bedeutet, meinen Befehlen nicht zu gehorchen. Offensichtlich muß er diese Lektion wieder lernen!«
Auf ihr Kommando gruben sich Skies mächtige Hinterbeine in das Pflaster. Er breitete seine Flügel aus und flog in den Morgenhimmel. Die Menschen von Palanthas spürten, wie sich ein Schatten von ihren Herzen hob, aber das war auch alles, was sie wußten. Nur wenige sahen den Aufbruch des Drachen und seiner Reiterin.
Fürst Soth blieb am Saum des Eichenwaldes von Shoikan stehen. »Auch ich glaube an das Schicksal, Kitiara«, murmelte er. »Das Schicksal, das sich ein Mensch selbst bereitet.«
Er sah zu den Fenstern des Turms der Erzmagier hoch, wo das Licht in dem Zimmer ausgelöscht wurde, in dem sie sich aufgehalten hatten. Einen kurzen Augenblick war der Turm in ewige Dunkelheit eingehüllt, die um ihn zu verweilen schien, eine Dunkelheit, die das Sonnenlicht nicht durchdringen konnte. Dann leuchtete ein anderes Licht in einem Zimmer des Turms auf, im Laboratorium des Magiers, dem dunklen und geheimen Raum, in dem Raistlin an seinem Zauber arbeitete.
»Ich frage mich, wer diese Lektion lernen wird«, murmelte Soth. Schulterzuckend verschwand er, verschmolz mit dem schwindenden Schatten, als sich das Tageslicht näherte.
6
»Laßt uns hier eine Rast einlegen«, schlug Caramon vor und steuerte auf ein baufälliges Gebäude zu, das sich wie ein schmollendes Tier im Wald versteckt hielt. »Vielleicht ist sie hier.«
»Das bezweifle ich wirklich«, sagte Tolpan, der unsicher das Schild beäugte, das an einer Kette über der Tür hing. »Der ›Gesprungene Krug‹ scheint wirklich nicht der Ort zu sein...«
»Unsinn«, knurrte Caramon, »sie muß essen. Selbst große, wichtige Kleriker müssen essen. Oder vielleicht hat jemand sie hier auf dem Pfad gesehen. Bisher hatten wir kein Glück.«
»Nein«, murmelte Tolpan leise, »aber wir könnten mehr Glück haben, wenn wir auf der Straße suchen und nicht in Wirtshäusern.«
Sie befanden sich nun seit drei Tagen auf der Reise, und Tolpans schlimmste Befürchtungen über dieses Abenteuer hatten sich als wahr erwiesen.
Normalerweise sind Kender begeisterte Reisevögel. Alle Kender sind von Wanderlust erfüllt, wenn sie ungefähr das zwanzigste Lebensjahr erreichen. In dieser Zeit schlagen sie fröhlich unbekannte Wege ein, ohne jegliche Absicht, außer Abenteuer und alle möglichen wunderschönen, entsetzlichen oder merkwürdigen Gegenstände zu finden.
Tolpan Barfuß, der auf die Dreißig zuging, war in vielerlei Hinsicht ein typischer Kender. Er war kreuz und quer durch den Kontinent Ansalon gereist, zuerst mit seinen Eltern, bevor sie sich in Kenderheim niedergelassen hatten. Als er alt genug war, hatte er sich allein auf die Wanderschaft begeben, bis er Flint Feuerschmied, den Zwergenschmied, und seinen Freund Tanis, den Halbelf, kennenlernte. Als Sturm Feuerklinge, Ritter von Solamnia, und die Zwillinge Caramon und Raistlin zu ihnen stießen, wurde Tolpan in das wunderschönste Abenteuer seines Lebens hineingezogen, den Krieg der Lanze.
Aber in gewisser Hinsicht war Tolpan kein typischer Kender. Der Verlust zweier Leute, die er sehr geliebt hatte – Sturm Feuerklinge und Flint —, hatte den Kender tief berührt. Er hatte das Gefühl der Angst kennengelernt, der Angst um jene, die ihm etwas bedeuteten. Seine Angst um Caramon war gerade jetzt groß.
Und sie wuchs täglich.
Anfangs war die Reise lustig gewesen. Nachdem Caramon seinen Schmollanfall wegen Tikas Hartherzigkeit und der Unfähigkeit der Welt, ihn zu verstehen, überwunden hatte, hatte er ein paar Schlucke aus seiner Flasche genommen und sich besser gefühlt. Nach einigen weiteren Schlucken begann er Geschichten zu erzählen über die Zeit, als er beim Aufspüren von Drakoniern mitgeholfen hatte. Tolpan fand das amüsant und unterhaltsam und genoß den Morgen, obgleich er ständig Bupu im Auge behalten mußte, damit sie nicht von einem Wagen überfahren wurde oder in ein Schlammloch geriet.
Am Nachmittag war die Flasche leer und Caramons Laune so gut, daß er bereitwillig einigen Geschichten Tolpans zuhörte, die der Kender immer wieder erzählte. Jedoch mitten im besten Teil der Geschichte, als er sich mit dem Pelzelefanten auf der Flucht befand und die Zauberer mit Blitzen auf ihn schossen, stieß Caramon unglücklicherweise auf eine Taverne.
»Ich will nur die Flasche nachfüllen«, murmelte er und ging hinein.
Tolpan wollte ihm folgen, sah jedoch auf Bupu, die erstaunt und mit offenem Mund auf die Schmiede eines Hufschmieds auf der anderen Straßenseite starrte. Da ihm klar war, daß sie entweder sich selbst oder die Stadt oder beides zusammen in Brand setzen würde, und da er auch wußte, daß er sie nicht mit in die Taverne nehmen konnte – die meisten Wirte verweigerten Gossenzwergen den Eintritt —, entschied Tolpan, draußen zu bleiben und ein Auge auf sie zu haben. Denn Caramon würde ja nur einige Minuten...
Zwei Stunden später taumelte der große Mann heraus.
»Wo in der Hölle bist du gewesen?« rief Tolpan.
»Hab’ nur... hab’ ein bißchen...«, Caramon schwankte unsicher, »einen für die... Straße.«
»Ich bin auf einer Suche!« schrie Tolpan aufgebracht. »Meine erste Suche, mir aufgetragen von einer wichtigen Person, die sich vielleicht in Gefahr befindet. Und ich hänge hier zwei Stunden mit einer Gossenzwergin herum!« Tolpan zeigte auf Bupu, die in einem Graben eingeschlafen war. »Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so gelangweilt, und du bist da drin und läßt dich mit Zwergenspiritus vollaufen!«