»›Große, dunkle Augen aus Feuer« – Fürst Soth! Aha, meine Schwester, du verrätst mich«, flüsterte Raistlin. »Ich rieche deine Angst, Kitiara! Du Feigling! Ich hätte dich zur Königin über diese Welt gemacht. Ich hätte dir unermeßlichen Reichtum, unbegrenzte Macht geben können. Aber nein. Du bist trotz allem ein schwacher kleiner Wurm!«
Raistlin stand ruhig da, nachdenkend, starrte in den stillen Teich. Als er dann wieder sprach, klang seine Stimme sanft, tödlich. »Das werde ich nicht vergessen, meine teure Schwester. Du hast Glück, daß ich wichtigere, dringlichere Geschäfte zu erledigen habe, oder du würdest bei dem Phantomfürsten leben, der dir dient!« Raistlins magere Faust ballte sich zusammen, dann entspannte er sie wieder. »Aber nun, was soll nun geschehen? Ich muß etwas unternehmen, bevor mein Bruder die Klerikerin in ein Blumenbeet pflanzt!«
»Meister, was ist geschehen?« wagte Dalamar mit großem Mut zu fragen. »Diese – Frau. Was bedeutet sie dir? Ich verstehe nicht.«
Raistlin warf Dalamar einen gereizten Blick zu und schien ihn wegen seiner Unverschämtheit rügen zu wollen. Dann zögerte er. Seine goldenen Augen flackerten blitzartig in einem Licht auf, das Dalamar sich zusammenkrümmen ließ. »Natürlich, Lehrling. Du sollst alles erfahren. Aber zuerst...«
Raistlin hielt inne. Eine andere Gestalt betrat den Schauplatz im Wald. Es war eine Gossenzwergin, eingehüllt in Schichten von leuchtenden, bunten Stoffen, einen riesigen Beutel im Laufen hinter sich herziehend.
»Bupu!« flüsterte Raistlin. »Hervorragend. Wieder einmal wirst du mir helfen, meine Kleine.« Er streckte eine Hand aus und berührte das stille Wasser.
Die Lebendigen um den Teich schrien vor Entsetzen auf, denn sie hatten viele von ihrer Art in das dunkle Wasser stolpern sehen, nur um zu schrumpfen und zu welken und nichts weiter als ein Rauchwölkchen zu werden, das sich mit einem Kreischen in die Luft erhob. Aber Raistlin murmelte sanfte Worte, dann zog er seine Hand zurück. Die Finger waren weiß wie Marmor, ein Schmerzenskrampf überzog sein Gesicht. Eilig ließ er seine Hand in eine Tasche seiner Roben gleiten.
Dalamar starrte in das Wasser und beobachtete die Gossenzwergin, die sich der stillen, leblosen Gestalt der Frau näherte. »Ich helfen.«
»Nein, Bupu!«
»Du nicht mögen meinen Zauber! Ich gehen nach Hause. Aber zuerst ich helfen hübsche Dame.«
»Was im Namen der Hölle...«, murmelte Dalamar.
»Paß auf!« befahl Raistlin.
Dalamar beobachtete, wie die kleine, schmuddelige Hand der Gossenzwergin sich in den Beutel an ihrer Seite schob. Nachdem sie einige Momente herumgewühlt hatte, zog sie einen widerlichen Gegenstand hervor- eine tote, steife Eidechse mit einem Lederriemen um den Hals. Bupu näherte sich der Frau, und als der Kender sie aufzuhalten versuchte, schlug sie warnend ihre kleine Faust in sein Gesicht. Aufseufzend und Caramon einen Seitenblick zuwerfend, der wie ein Wilder grub, trat der Kender zurück. Bupu ließ sich neben der leblosen Gestalt der Frau nieder und legte sorgfältig die tote Eidechse auf die reglose Brust.
Dalamar keuchte.
Die Brust der Frau bewegte sich, die weißen Roben erbebten. Sie begann zu atmen, tief und friedlich.
Der Kender kreischte auf.
»Caramon! Bupu hat sie geheilt! Sie lebt! Sieh!«
»Was im...« Der große Mann hörte zu graben auf, taumelte hinüber und starrte voll Staunen und Angst auf die Gossenzwergin.
»Eidechsenkur«, sagte Bupu triumphierend. »Funktioniert immer.«
»Ja, meine Kleine«, sagte Raistlin, immer noch lächelnd. »Es funktioniert auch bei Husten, wenn ich mich recht erinnere.« Er fuhr mit der Hand über das stille Wasser. Die Stimme des Magiers wurde zu einem einlullenden Singsang. »Und jetzt, mein Bruder, schlaf, bevor du noch weitere Dummheiten anstellst. Schlaf, Kender, schlaf, kleine Bupu. Und auch du schlaf, Crysania, in dem Reich, wo Paladin dich beschützt.«
Immer noch singend, machte Raistlin mit seiner Hand eine winkende Bewegung. »Und jetzt komm, Wald von Wayreth. Kriech über sie, solange sie schlafen. Sing ihnen dein magisches Lied. Locke sie auf deine geheimen Pfade.«
Der Zauber war beendet. Raistlin erhob sich und wandte sich zu Dalamar. »Und komm auch du, Lehrling«, in der Stimme lag eine Spur von Sarkasmus, die den Dunkelelf erschauern ließ, »komm in mein Arbeitszimmer. Es ist Zeit für eine Unterhaltung.«
9
Dalamar saß im Arbeitszimmer des Magiers auf dem gleichen Stuhl wie Kitiara bei ihrem Besuch. Der Dunkelelf war bei weitem nervöser, bei weitem unsicherer, als Kitiara gewesen war. Jedoch hatte er seine Ängste gut unter Kontrolle. Nach außen hin wirkte er entspannt, gelassen. Eine zunehmende Röte in seinem blassen Gesicht konnte man vielleicht seiner Aufregung zuschreiben, daß er in das Vertrauen seines Herrn einbezogen wurde.
Dalamar war oft im Arbeitszimmer gewesen, obgleich nicht immer in der Gegenwart seines Herrn. Raistlin verbrachte seine Abende hier allein, las, studierte die Bände, die an den Wänden aufgereiht waren. Dann wagte niemand, ihn zu stören. Dalamar betrat das Arbeitszimmer nur bei Tageslicht, und nur, wenn Raistlin anderweitig beschäftigt war. In dieser Zeit war es dem Lehrling gestattet – nein, es wurde verlangt —, die Zauberbücher zu studieren, das heißt, einige von ihnen. Ihm war es verboten, die mit dem nachtblauen Einband zu öffnen.
Dalamar hatte dies natürlich einmal getan. Der Einband hatte sich äußerst kalt angefühlt, so kalt, daß er seine Haut verbrannte. Den Schmerz ignorierend, hatte er es geschafft, den Buchdeckel zu öffnen, aber nach einem Blick hatte er es schnell wieder geschlossen. Die Worte waren unsinnig gewesen, er konnte nichts mit ihnen anfangen. Und er war in der Lage gewesen, den Schutzzauber auszumachen, der über ihnen lag. Jeder, der sie ohne den richtigen Schlüssel zum Übersetzen zu lange ansah, würde dem Wahnsinn verfallen.
Als Raistlin Dalamars verletzte Hand gesehen hatte, hatte er ihn nach der Ursache gefragt. Der Dunkelelf erwiderte kühl, daß er die Säure einer Zauberzutat beim Mischen verschüttet habe. Der Erzmagier hatte gelächelt und nichts gesagt. Es bestand kein Grund dafür. Beide verstanden.
Aber jetzt war er auf Raistlins Einladung im Arbeitszimmer, befand sich auf der mehr oder weniger gleichen Ebene wie sein Herr. Wieder einmal spürte Dalamar die alte Angst, die sich mit Aufregung vermischte.
Raistlin saß vor ihm an dem geschnitzten Holztisch, eine Hand ruhte auf einem dicken, nachtblaugebundenen Zauberbuch. Die Finger des Erzmagiers liebkosten das Buch, fuhren über die silbernen Runen auf dem Deckel. Raistlins Augen starrten unbeweglich auf Dalamar. Der Dunkelelf rührte und regte sich nicht unter dem aufmerksamen, durchdringenden Blick.
»Du warst für die Prüfung sehr jung«, sagte Raistlin plötzlich mit seiner sanften Stimme.
Dalamar blinzelte. Das hatte er nicht erwartet. »Nicht so jung wie Ihr, Meister«, erwiderte er. »Ich bin nun ungefähr neunzig, das heißt nach Euren menschlichen Jahren gerechnet ungefähr fünfundzwanzig. Ihr, glaube ich, wart erst einundzwanzig, als Ihr Euch der Prüfung unterzogen habt.«
»Ja«, murmelte Raistlin, und ein Schatten fuhr über die goldgefärbte Haut des Magiers. »Ich war... einundzwanzig.«
Dalamar sah, wie sich die Hand auf dem Zauberbuch in einem schnellen, plötzlichen Schmerz zusammenballte; er sah die goldenen Augen aufflackern. Der junge Lehrling war über diesen Gefühlsausbruch nicht überrascht. Die Prüfung wird von jedem Zauberer verlangt, der die Künste der Magie auf einer fortgeschrittenen Stufe ausüben will. Sie ist grausam. Die höheren Stufen der Magie, auf denen wahre Macht erlangt wird, sind kein Platz für Stümper. Und sie auszusieben war der Sinn dieser Prüfung; der Tod war die Strafe für Versagen. Dalamar hatte immer noch Alpträume über seine eigene Prüfung, daher konnte er Raistlins Reaktion nur zu gut verstehen.
»Ich habe bestanden«, flüsterte Raistlin, seine Augen starrten in jene Zeit zurück. »Aber als ich aus diesem schrecklichen Ort herauskam, war ich so, wie du mich jetzt siehst. Meine Haut hatte diese goldene Tönung angenommen, mein Haar war weiß, und meine Augen...« Er war nun wieder in der Gegenwart, sein Blick starr auf Dalamar gerichtet. »Weißt du, was ich mit diesen Stundenglasaugen sehe?«