»Nein, Meister.«
»Ich sehe die Zeit, wie sie auf die Dinge einwirkt«, erwiderte Raistlin. »Menschliches Fleisch verfällt vor diesen Augen, Blumen welken und sterben, selbst die Felsen zerbröckeln, wenn ich sie anschaue. In meiner Sicht herrscht immer Winter. Selbst du, Dalamar«, Raistlins Augen fingen und hielten den jungen Lehrling mit ihrem entsetzlichen Blick fest, »selbst Elfenfleisch, das so langsam altert im Laufe der Jahre, wie Regenschauer selten sind im Frühling – selbst in deinem jungen Gesicht, Dalamar, sehe ich die Spuren des Todes!«
Dalamar erbebte, und dieses Mal konnte er sein Gefühl nicht verbergen. Unfreiwillig wich er in die Kissen des Stuhles zurück. Ein Schutzzauber fiel ihm unverzüglich ein, so wie ein Zauber, der verletzen sollte. Dummkopf! verhöhnte er sich selbst, als er schnell die Beherrschung wiedererlangte, welch erbärmlicher Zauber von mir könnte ihn töten?
»Das ist wahr«, murmelte Raistlin als Antwort auf Dalamars Gedanken, wie er es häufig tat. »Auf Krynn lebt niemand, der die Macht hat, mir zu schaden. Gewiß nicht du, Lehrling. Aber du bist tapfer. Du hast Mut. Du hast oft neben mir im Laboratorium gestanden, jenen gegenübergestanden, die ich von den Ebenen ihrer Existenz herbeigezogen habe. Du wußtest, wenn ich nur zur falschen Zeit Atem geholt hätte, hätten sie die lebenden Herzen aus unseren Körpern gerissen und verschlungen, während wir uns vor ihnen in Qualen gekrümmt hätten.«
»Das war mein Privileg«, murmelte Dalamar.
»Ja«, entgegnete Raistlin, seine Gedanken waren weit weg. Dann zog er eine Augenbraue hoch. »Und du wußtest, nicht wahr, daß, wenn so etwas passiert wäre, ich mich gerettet hätte und nicht dich?«
»Natürlich, Meister«, antwortete Dalamar standhaft. »Ich verstehe und nehme das Risiko auf mich.« Seine Augen glühten. Seine Angst war vergessen, und er beugte sich eifrig nach vorne. »Nein, Meister, ich begrüße die Risiken! Ich würde alles opfern um...«
»Der Magie willen«, beendete Raistlin den Satz.
»Ja! Um der Magie willen!« schrie Dalamar.
»Und um der Macht willen, die sie verleiht.« Raistlin nickte. »Du bist ehrgeizig. Aber wie ehrgeizig? frage ich mich. Suchst du vielleicht die Herrschaft über deine Angehörigen? Oder womöglich irgendein Königreich, wo du einen Monarchen in Sklaverei hältst, während du den Reichtum seiner Länder genießt? Oder vielleicht ein Bündnis mit einem dunklen Fürsten, so wie es in den Tagen der Drachen vor nicht allzu langer Zeit geschehen ist? Meine Schwester Kitiara zum Beispiel fand dich recht attraktiv. Sie würde dich gerne um sich haben. Insbesondere, wenn du über magische Künste verfügst, die du im Schlafzimmer ausüben...«
»Meister, ich würde niemals eine Entweihung...«
Raistlin winkte mit einer Hand. »Ich mache Witze, Lehrling. Aber du verstehst, was ich sagen will. Kommt einer dieser Gedanken deinen Träumen nahe?«
»Nun ja, gewiß, Meister.« Dalamar zögerte verwirrt. Wohin sollte das führen? Er hoffte, gewisse Informationen verwenden und weitergeben zu können, aber wieviel konnte er von sich enthüllen? »Ich...«
Raistlin unterbrach ihn. »Ja, ich sehe, ich bin sehr nahe an den Punkt gekommen. Ich habe die Höhen deines Ehrgeizes entdeckt. Hast du niemals meine erkannt?«
Dalamar fühlte einen Freudenschauer durch seinen Körper gehen. Das war es, was er herausfinden sollte. Der junge Magier antwortete langsam: »Ich habe mir oft diese Frage gestellt, Meister. Du bist so mächtig.« Er zeigte zum Fenster, wo die Lichter von Palanthas zu sehen waren, die in der Nacht leuchteten. »Diese Stadt, dieses Land Solamnia, dieser Kontinent Ansalon könnten dir gehören.«
»Diese Welt könnte mir gehören!« Raistlin lächelte, seine dünnen Lippen teilten sich leicht. »Wir haben die Länder unter den Meeren gesehen, nicht wahr, Lehrling? Wenn wir in das brennende Wasser schauen, können wir sie sehen und jene, die dort leben. Sie zu kontrollieren wäre einfach...« Er erhob sich, ging zum Fenster und starrte hinaus auf die funkelnde Stadt, die sich vor ihm ausbreitete.
Dalamar, der die Aufregung seines Herrn spürte, verließ seinen Stuhl und folgte ihm.
»Ich könnte dir dieses Königreich geben, Dalamar«, sagte Raistlin sanft. Seine Hand zog den Vorhang zurück, seine Augen verweilten auf den Lichtern, die wärmer leuchteten als die Sterne am Himmel. »Ich könnte dir nicht nur die Herrschaft über deine elenden Landsleute geben, sondern auch über die Elfen auf ganz Krynn.« Er zuckte die Schultern. »Ich könnte dir meine Schwester geben.« Er wandte sich vom Fenster ab, zu Dalamar, der ihn begierig beobachtete. »Aber es interessiert mich nicht.« Er machte eine Geste und ließ den Vorhang fallen. »Überhaupt nicht. Mein Ehrgeiz geht weiter.«
»Aber Meister, es bleibt nicht mehr viel übrig, wenn Ihr die Welt ablehnt.« Dalamar stammelte, er verstand nicht. »Falls Ihr nicht Welten jenseits von dieser gesehen habt, die meinen Augen verborgen geblieben sind...«
»Welten jenseits von dieser?« sinnierte Raistlin. »Interessanter Gedanke. Vielleicht sollte ich eines Tages diese Möglichkeit in Erwägung ziehen. Aber nein, das meine ich jetzt nicht.« Er machte eine Pause, und dann winkte er Dalamar näher zu sich. »Hast du die große Tür ganz hinten im Laboratorium gesehen? Die Stahltür, die mit silbernen und goldenen Runen versehen ist? Die Tür ohne Schloß?«
»Ja, Meister«, erwiderte Dalamar und spürte einen eisigen Schauer über seinen Rücken laufen, den nicht einmal die seltsame Hitze von Raistlins Körper, der so nahe bei ihm stand, zerstreuen konnte.
»Weißt du, wohin die Tür führt?«
»Ja, Meister.«
»Und du weißt, warum sie nicht geöffnet ist?«
»Du kannst sie nicht öffnen, Meister. Nur einer, der über große und mächtige Magie, und einer, der über heilige Kräfte verfügt, können sie vielleicht gemeinsam öffnen —« Dalamar stockte, seine Kehle verengte sich vor Angst.
»Ja«, murmelte Raistlin, »du verstehst. ›Einer, der über heilige Kräfte verfügt.‹ Jetzt weißt du, warum ich sie brauche! Jetzt verstehst du die Höhen und die Tiefen meines Ehrgeizes.«
»Das ist Wahnsinn!« keuchte Dalamar, dann senkte er voll Scham seine Augen. »Verzeiht mir, Meister, ich habe keine Mißachtung beabsichtigt.«
»Nein, und du hast recht. Es ist Wahnsinn, bei meinen begrenzten Kräften.« Eine Spur Bitterkeit mischte sich in die Stimme des Magiers. »Das ist der Grund, warum ich eine Reise unternehmen werde.«
»Reise?« Dalamar sah auf. »Wohin?«
»Nicht wohin – in welche Zeit«, korrigierte Raistlin. »Du hast mich über Fistandantilus sprechen hören?«
»Viele Male, Meister«, sagte Dalamar mit fast ehrfürchtiger Stimme. »Der Größte unseres Ordens. Dort sind seine Zauberbücher, die mit dem nachtblauen Einband.«
»Unvollständig«, murmelte Raistlin, mit einer Geste die gesamte Bibliothek als unbedeutend abtuend. »Ich habe alle gelesen, viele Male in den vergangenen Jahren, seitdem ich den Schlüssel zu ihren Geheimnissen von der Königin der Finsternis persönlich erhalten habe. Aber sie enttäuschen mich!« Raistlin ballte seine magere Hand zur Faust. »Ich lese diese Zauberbücher und finde große Lücken vor – ganze Bände fehlen! Vielleicht wurden sie während der Umwälzung zerstört oder später in den Zwergentorkriegen, die sich als das Verderben von Fistandantilus erwiesen. Diese fehlenden Bände, dieses sein Wissen, das verlorengegangen ist, wird mir die Macht geben, die ich brauche!«
»Und folglich wird deine Reise zurück...« Dalamar hielt ungläubig inne.
»Zurück in die Zeit«, beendete Raistlin gelassen den Satz. »Zurück zu den Tagen kurz vor der Umwälzung, als sich Fistandantilus auf dem Höhepunkt seiner Macht befand.«