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Er war erst seit wenigen Augenblicken im Freien, aber der Regen hatte ihn bereits nach den ersten Schritten bis auf die Haut durchnäßt, obwohl er gelaufen war und sich bemüht hatte, stets auf der windabgewandten Seite der Straße zu bleiben. Der Sturm beutelte die Stadt seit Tagen; eine klamme, unsichtbare Riesenhand, die über das Land strich und die titanischen Mauern mit einer an Hohn grenzenden Leichtigkeit übersprang, den Fluß in einen schäumenden grauen Katarakt verwandelte und nachhaltig daran erinnerte, daß der Herbst längst hereingebrochen war und die Hitze der vorangegangenen Wochen nichts als ein letztes vergebliches Aufbäumen im nie endenden Kampf der Jahreszeiten bedeutete. Und so wie der bleigraue Himmel mit jeder Stunde um eine Winzigkeit tiefer auf die Stadt herabzusinken schien, schien sich auch der Pulsschlag Iknes zu verlangsamen - die Straßen leerten sich jetzt früher, und die Menschen waren merklich ruhiger und schweigsamer geworden, als entzöge der Sturm nicht allein der Stadt Licht und Wärme, sondern auf geheimnisvolle Weise auch ihren Bewohnern etwas von ihrer Lebenskraft.

Skar hatte auf dem Weg hierher nicht einen einzigen Menschen getroffen, obwohl das Händlerviertel Iknes zu jenen Orten gehörte, an denen das Leben erst nach Einbruch der Dunkelheit richtig erwachte. Es gab viele, die einen Passierschein benötigten und auch bekamen, und kaum weniger, die sich nicht um die Bestimmungen scherten und auch nach Schließen der Stadttore noch aus dem Haus gingen, ungeachtet der drohenden Geldstrafe. Heute waren die Gassen leer. Die einzige Bewegung kam von den schräg vor dem Wind herspringenden Regenschleiern.

Die Straße glänzte wie ein riesiger mattgrauer Spiegel. Zwischen den Quadern des Kopfsteinpflasters hatten sich unzählige winzige Seen und kleine reißende Bäche gebildet, glitzernde Silbersplitter, die sich zu gurgelnden Strömen vereinigten und die Rinnsteine überfluteten. Die Kanäle hatten es längst aufgegeben, die unablässig vom Himmel herabstürzenden Wassermassen aufnehmen zu wollen; die Abflußrinnen standen bereits jetzt knöcheltief unter Wasser und braunem, brodelndem Schlamm, und obwohl die Flutschleusen schon vor Tagen weit geöffnet worden waren, stieg der Pegel unaufhaltsam. Die niedrig gelegenen Bezirke der Stadt würden vielleicht schon morgen, spätestens aber übermorgen geräumt werden müssen.

Skar zog den Kopf zwischen die Schultern ein und ging schneller. Der Wind schlug mit winzigen spitzen Krallen nach seinem Gesicht und biß bei jedem Atemzug schmerzhaft in seine Kehle. Seine Stiefel quietschten vor Nässe. Wasser lief in kleinen eisigen Strömen unter seinen Kragen. Der Wind war kalt, aber schlimmer als die Kälte war der Regen - feine, wehende Schleier aus Millionen und Abermillionen unendlich feiner Tröpfchen, die da, wo der Sturm sie nicht vor sich her peitschte, wie spinnwebfeiner Nebel in der Luft hingen und alles mit Feuchtigkeit tränkten. Es gab keinen Schutz gegen diesen Regen - seit Tagen kroch er unaufhaltsam in jeden Winkel, schlüpfte durch jede Tür, jedes Fenster, jede Mauerritze und überwand beharrlich jede Sperre, die man gegen ihn errichtete. Ikne sog sich langsam voll Wasser, als wäre die ganze Stadt ein gigantischer steinerner Schwamm, dessen einzige Aufgabe es war, Wasser in seinen unzähligen Kavernen und Schächten zu sammeln. Selbst in seinem Quartier tief unter der Arena, unter Tonnen von Fels und Erdreich vergraben, schien es ununterbrochen feucht und klebrig zu sein.

Skar war froh, als der trübe Schein der Windlaterne endlich vor ihm auftauchte; eine zerfaserte Insel aus Licht und tanzenden Schatten in dem grauen Ozean, in dem Ikne ertrank.

Sein Blick fiel wie immer auf das verblichene Schild über dem Eingang. Die Buchstaben waren längst abgeblättert, und nur wer ohnehin wußte, was auf dem Schild stand, wäre jetzt noch in der Lage gewesen, die Worte RACHES WACHT zu entziffern. Aber das Schild war ohnehin nicht notwendig und hing vermutlich nur noch dort, weil es noch niemand der Mühe wert gefunden hatte, es abzunehmen.

Jedermann in Ikne kannte die WACHT; ein Umstand, den der Wirt allerdings weniger der Qualität seines Weines als vielmehr der Tatsache zu verdanken hatte, daß RACHES WACHT die einzige Taverne innerhalb der Stadtmauern war, die während des ganzen Tages und der gesamten Nacht geöffnet bleiben durfte. Wer nach Dunkelwerden noch Durst auf einen Krug Bier oder Wein verspürte oder eine Mahlzeit haben wollte - eine Mahlzeit freilich, die ebenso schlecht wie teuer war -, hatte gar keine andere Wahl, als hierherzukommen. Die Stadtpatrouille achtete streng darauf, daß die übrigen Schänken bei Einbruch der Dämmerung geschlossen wurden, und kein Wirt, der Wert darauf legte, seine Konzession zu behalten, hätte es gewagt, gegen diese Verordnung zu verstoßen. Die Tempelkönige Iknes verstanden bei der Auslegung ihrer Gesetze keinen Spaß.

Skar legte die letzten Meter im Laufschritt zurück, betrat das eingeschossige Haus und stemmte sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen die Tür, um sie gegen das wütende Schieben und Stoßen des Windes zu schließen. Das Heulen des Sturmes wurde leiser, als der Riegel einrastete.

Er streifte seinen Umhang ab und schüttelte sich wie ein nasser Hund, bevor er den Vorhang beiseiteschlug und den Schankraum betrat.

Skar blieb gewohnheitsmäßig unter der Tür stehen und sah sich rasch nach beiden Seiten um. Die Schänke war in schummeriges gelbes Halbdunkel getaucht. Unter der hohen, rußgeschwärzten Decke flackerte eine einsame Öllampe, deren viel zu kleine Flamme vergeblich versuchte, Dunkelheit und Schatten in die Ecken zu verbannen. Der würfelförmige Raum war fast leer - das Wetter hatte die Leute nicht nur von den Straßen vertrieben, sondern den Wirt auch der meisten seiner Gäste beraubt, und die ungewohnte Leere ließ die Schäbigkeit des Raumes besonders deutlich hervortreten. Die Wände bestanden aus roh zusammengemauerten Ziegelsteinreihen, zwischen denen der Mörtel hervorrieselte. Irgendwann vor langer Zeit waren sie einmal gestrichen worden, aber die Farbe war längst fleckig, so daß sie jetzt eher wie verkrusteter Schmutz aussah. Die Fensterscheiben vor den zugezogenen Läden wirkten blind und staubig. Vor der niedrigen Theke hockten zwei Soldaten und würfelten, ohne jedoch sehr auf ihr Spiel konzentriert zu sein - zumindest einer von ihnen war schon so betrunken, daß er Mühe hatte, den Würfelbecher zu halten. Seine Bewegungen wirkten abgehackt und fahrig, und der dunkle Fleck vor ihm bewies, daß er ähnliche Schwierigkeiten auch mit seinem Weinkrug hatte. Die Uniformen der beiden waren verdreckt und schlampig; auf dem schwarzen Leder der Brust- und Rückenschilde klebte eingetrockneter Schlamm, Helme und Arm- und Beinschienen waren auch schmutzverkrustet. Der Stoff ihrer Röcke war zerknittert. Wahrscheinlich, dachte Skar, zwei Soldaten der Stadtpatrouille, die nach einer langen und kalten Nachtwache Trost bei einem - oder mehreren - Krügen Wein gesucht hatten.

Er ging langsam an ihnen vorbei, hockte sich in eine Ecke schräg gegenüber der Tür und hob stumm die Hand, als der Wirt aus rotgeränderten Augen zu ihm herüberblickte. Skar mußte unwillkürlich lächeln, als er Raches verschlafenes Gesicht sah. Del und er verkehrten seit Jahren in dieser Taverne, aber er konnte sich an nicht mehr als zwei oder drei Gelegenheiten erinnern, zu denen der Wirt nicht selbst hinter der Theke gestanden war. Er hatte sich schon mehrmals gefragt, wann der glatzköpfige Fettwanst überhaupt schlief. Aber vielleicht hatte Rache sich einen derartigen Luxus auch längst abgewöhnt, um das Geld für eine Bedienung zu sparen. Rache rang sich ein halbwegs freundliches Nicken ab und begann Wein aus dem bauchigen Faß hinter der Theke in einen Krug zu füllen.

Außer ihm und den beiden Soldaten hatten sich nur noch zwei weitere Gäste in die Schänke verirrt. Eine zusammengekauerte, in braune Fetzen gehüllte Gestalt - ein Bettler vielleicht, der von irgend jemandem genug geschenkt bekommen oder der auch genug gestohlen hatte, um sich einen Krug Wein und damit ein trockenes und warmes Plätzchen zu kaufen, lehnte an der Wand, hatte den Kopf auf die angezogenen Knie gebettet und schnarchte friedlich. Und eine dunkelhaarige schlanke Frau hockte mit halbgeschlossenen Augen gleich dem Bettler in einer Ecke und fixierte einen imaginären Punkt irgendwo über der Theke.