Er ballte in hilflosem Zorn die Fäuste. Für einen Augenblick wurde die Verlockung übermächtig, dem Drängen in sich freien Lauf zu lassen, sich ganz aufzugeben und die dunkle Macht in seinem Inneren zu entfesseln und Vela zu töten. Er wußte, daß er es konnte. Nicht einmal die Errish und der Drache waren seinem dunklen Bruder gewachsen. Aber er wußte auch, daß er nie wieder er selbst werden würde, wenn er dem namenlosen Ding in sich gestattete, einmal wirkliche Macht über ihn zu erlangen.
»Warum tust du es nicht, Skar?« fragte Vela spöttisch.
Skar schrak aus seinen Gedanken hoch. »Was?«
»Du willst mich umbringen«, sagte Vela ruhig. »Also, warum tust du es nicht?«
Skar stöhnte. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Seine Lippen bebten.
»Was ... hast du mit mir gemacht, du Hexe?« fragte er mühsam. Es war wie die Male zuvor, nur schlimmer. Er wollte sie hassen, wollte seinem Zorn freien Lauf lassen, aber er konnte es nicht. Seine Gefühle waren in Unordnung.
»Du kannst es nicht, Skar«, fuhr Vela fort. »Ein kleiner Liebeszauber, von dem du nichts gemerkt hast - ich hoffe, du verzeihst mir diesen kleinen Kunstgriff, aber es mußte sein. Ich habe nicht erwartet, daß du plötzlich das Bedürfnis verspürst, mich in die Arme zu schließen und zu küssen, aber du bist mir auch nicht wirklich böse, oder?« Sie lächelte wieder, schüttelte mit einer raschen Bewegung das Haar in den Nacken und wurde übergangslos ernst. »Wir haben genug Zeit verloren«, fuhr sie in verändertem Tonfall fort. »Ich nehme an, du trägst den Stein bei dir. Gib ihn mir.« Skars Hand fuhr an den Brustbeutel; ein Reflex, der zu schnell kam, als daß er ihn noch unterdrücken konnte. »Nein«, sagte er. Vela seufzte. »Ich hätte dich für klüger gehalten, Skar«, meinte sie. »Aber wie du willst.«
Eine zweite, in ein rotes, wallendes Cape gehüllte Gestalt erschien neben der Errish auf dem Kraterrand. Tantor.
Der Zwerg blieb einen Herzschlag lang reglos neben dem Drachen stehen, sprang dann mit weit ausgebreiteten Armen in den Krater hinab und kam rasch auf Skar zu. »Gib mir den Stein, Skar«, sagte er herrisch.
Skar schüttelte den Kopf und wich einen halben Schritt zurück. Auf Tantors Zügen erschien ein ungeduldiger Ausdruck. »Spiel nicht den Helden, Satai. Oder willst du unbedingt Bekanntschaft mit dem Atem des Drachen machen?« Er grinste, hob in einer Bewegung, die zu schnell war, als daß Skar noch hätte reagieren können, den Arm und riß ihm den Brustbeutel ab.
»In den Bergen stehen Pferde für euch«, zischte er hastig. »Auch Essen und heilende Salben. Mehr kann ich nicht tun.« Lauter fügte er hinzu: »Das brauchst du ja wohl nicht mehr, oder?«
Skar empfand nichts, absolut nichts. Er war betäubt, gefangen in einem Alptraum, aus dem er nicht erwachen konnte. Tantor hatte ihm nicht nur den Stein, sondern auch den schmalen Rest Leben genommen, der ihm geblieben war. Aber es war - wie ihm erst jetzt wirklich klar wurde - ohnehin nur geliehenes Leben gewesen, zweifach geliehen, zuerst von Vela, dann von Gowenna und den Sumpfmännern. Gab es irgendeinen in dieser Gruppe, den schwarzen Satai eingeschlossen, in dessen Schuld er nicht stand?
Der Zwerg entfernte sich, kletterte behende wie eine übergroße, vierbeinige Spinne den Kraterrand empor und war wenige Augenblicke später verschwunden.
»Umsonst«, flüsterte Gowenna. »Es war alles ... umsonst.« Sie hob die Hand, führte sie in einer unendlich müden, resignierenden Bewegung an die Lippen. »Warum?« fragte sie. Und dann noch einmal, mit einem gellenden, verzweifelten Aufschrei: »Warum, Vela?« Aber wieder bestand die Antwort der Errish nur aus Schweigen. Einen Moment hielt sie Gowennas Blick stand, dann drängte sie den titanischen Staubdrachen mit einer herrischen Bewegung herum. Wieder bebte die Erde, als sich der schuppige Koloß in Bewegung setzte.
Arsan begann zu kreischen, hoch, spitz und in schrillen Tönen des Wahnsinns. Skar wußte nicht, wann er aus seiner Trance aufgewacht war, wieviel von dem, was geschah, er wirklich mitbekommen hatte. Aber es mußte genug gewesen sein, um seinen Geist endgültig zerbrechen zu lassen. Er sprang auf, riß sein Schwert aus dem Gürtel und rannte, wild um sich schlagend, an Skar vorbei hinter Vela her.
Der Drache blieb stehen. Der gewaltige, geschuppte Hals drehte sich wie ein bizarrer Schlangenkörper, und die kleinen, von boshafter Intelligenz erfüllten Augen starrten zu Arsan hinunter. Skar sah, wie sich Velas Lippen rasch und lautlos bewegten.
Skar erkannte die Gefahr im letzten Moment und reagierte, ohne zu denken. Der Drache warf den Kopf in den Nacken, stieß ein gewaltiges, ungeheuerliches Brüllen aus und spuckte eine Wolke flirrenden grauen Staubes in den Krater hinab.
Skar warf sich zur Seite, rollte mit einer verzweifelten Anstrengung weg und verbarg das Gesicht zwischen den Armen. Ein stechender, scharfer, unerträglich scharfer Geruch erfüllte den steinernen Kessel, nahm ihm den Atem und verätzte seinen Rücken. Die Schreie des Kohoners verstummten, aber dafür begann Gowenna zu schreien. Sie fiel, schlug die Hände vors Gesicht, grub die Finger in blutiges, dampfendes Fleisch, eine breiige Masse, in die der Atem des Drachen ihr Antlitz verwandelt hatte. Ein Krampf schüttelte ihren Körper. Sie bäumte sich auf, den Rücken in einem unmöglichen, knochenbrechenden Bogen durchgedrückt, trat in rasender Agonie mit den Beinen aus und erschlaffte von einer Sekunde auf die andere.
Arsan starb leichter. Er stürzte lautlos zu Boden, krümmte sich zusammen und verkrampfte die Hände um den Hals. Dünne graue Rauchfäden begannen sich von seiner Haut und seinen Kleidern zu kräuseln. Seine Glieder zuckten noch, aber er war schon tot, gestorben unter dem ersten flüchtigen Hauch des ätzenden Nebels. Skar erhob sich langsam auf Hände und Knie. Mit einem Mal war es still in dem weiten flachen Krater, unnatürlich, unheimlich still, so still, daß er selbst das leise Zischen, mit dem sich Arsans Körper zersetzte, überlaut hören konnte. Er stand vollends auf, blickte - ohne wirkliches Interesse und ohne wirklich zu registrieren, was er wahrnahm - der Reihe nach Arsan, Gowenna und die beiden Sumpfmänner an und starrte dann zum Kraterrand empor. Die Errish war verschwunden, und mit ihr waren Tantor und der Satai gegangen. Der Kraterrand war leer, als wäre alles nichts als ein böser Spuk gewesen.
Langsam, sehr, sehr langsam, als zögere er die Bewegung so lange wie überhaupt möglich hinaus, allein um irgend etwas tun zu können, wandte Skar sich um und ging zu Arsan hinüber.
Der Kohoner war tot; natürlich. Der Staubnebel hatte sein Fleisch bis auf die Knochen weggeätzt, sein Gesicht zu einem grinsenden Totenschädel werden lassen, ein weißes, abstoßendes, von blutigen Fleischfetzen bedecktes Ding, aus dessen Augenhöhlen sich dünne Rauchfäden kräuselten.
Nicht einmal mehr die Augen konnte Skar ihm schließen. Selbst diesen letzten Freundschaftsdienst hatte sie ihm genommen. »Armer kleiner Mann«, flüsterte er. »Armer alter kleiner Mann.« Arsan war der einzige gewesen, der einzige außer ihm und Gowenna und den beiden Schattenmännern, der die Hölle überstanden hatte, der einzige, obwohl er von Anfang an gewußt hatte, daß er sterben mußte. Es kam Skar wie ein höhnischer Betrug vor, gemeiner noch als das, was sie ihm und Gowenna angetan hatte. Er verstand nicht, warum Arsan hatte sterben müssen, warum Vela das getan hatte. Es war so sinnlos, so vollkommen sinnlos. Eine Machtdemonstration, mehr nicht. Er verstand nicht, warum Arsan tot war. Daß Vela ihn und Gowenna umbrachte, begriff er. Sie waren Feinde, gefährliche Feinde, die sie einfach nicht am Leben lassen durfte. Aber Arsan? Er war nichts als ein alter, schwacher Mann gewesen, der einen Traum geträumt hatte, den Traum, einmal im Leben genügend Geld zu haben, um sich und seine Familie satt zu bekommen. Und nun war dieser Traum aus, verkocht im tödlichen Staub der Bestie.
So sinnlos.