Aber derlei Rückschlüsse gehörten nicht zu ihrem Job, wenigstens nicht in diesem Fall. Mit dem gleichen Stift und auf dem gleichen Papier wie Ricky schrieb sie ein kleines Briefchen an AI. Wer den Text entworfen hatte, wusste sie nicht. Es war ihr auch egal.
Er lautete:»Hallo, AI! Was machst du so? Warum schreibst du nicht? Vergiss mich nicht. «Diese Art von Brief eben, aber mit einer netten kleinen Überraschung. Da Ricky nicht telefonieren konnte, schickte er AI eine Kassette mit den neuesten Nachrichten aus der Drogenklinik.
Bruce schrieb den Brief und arbeitete dann eine Stunde lang an dem Umschlag. Der Poststempel lautete: Neptune Beach, Florida.
Sie ließ den Umschlag unverschlossen. Ihr Werk wurde begutachtet und in eine andere Abteilung gebracht. Die Kassette wurde von einem jungen Agenten besprochen, der an der Northwestern University Schauspielunterricht gehabt hatte. Mit leiser, akzentloser Stimme sagte er:»Hallo, AI, hier ist Ricky. Ich hoffe, du bist angenehm überrascht, meine Stimme zu hören. Man lässt uns hier nicht das Telefon benutzen, aber aus irgendeinem Grund dürfen wir Kassetten verschicken. Ich kann's gar nicht erwarten, hier rauszukommen. «So ging es fünf Minuten lang weiter: über die Entziehungskur und darüber, wie sehr er seinen Onkel und die Leute hasste, die in Aladdin North das Sagen hatten. Er musste allerdings zugeben, dass sie ihn von seiner Sucht geheilt hatten. Er war sicher, dass er die Klinik später, im Rückblick, nicht mehr so negativ beurteilen würde.
Es war alles nur Geplauder. Er sprach nicht über irgendwelche Pläne für die Zeit nach seiner Entlassung und gab keinen Hinweis darauf, wohin er sich dann wenden und was er tun würde. Dass er sich gern eines Tages mal mit AI treffen würde, erwähnte er nur beiläufig.
Man war noch nicht so weit, AI Konyers zu ködern. Die Kassette diente nur einem einzigen Zweck: einen Sender aufzunehmen, der sie zu dem Versteck führen sollte, in dem Lake Rickys Briefe aufbewahrte. Ein präparierter Umschlag war zu riskant — AI hätte den Sender vielleicht entdeckt.
Bei Mailbox America in Chevy Chase hatte die CIA mittlerweile acht Postfächer, ordnungsgemäß gemietet von acht verschiedenen Personen, von denen jeder, wie AI Konyers, 24 Stunden täglich Zugang hatte. Sie kamen und gingen zu allen Tages- und Nachtzeiten, sahen in ihren Postfächern nach, holten die Briefe ab, die sie an sich selbst geschickt hatten, und kontrollierten, wenn niemand hinsah, auch Als Post.
Da sie seinen Terminkalender besser kannten als er selbst, warteten sie geduldig auf ihn. Sie waren sicher, dass er sich, wie zuvor, in Joggingkleidung aus dem Haus schleichen würde, und so hielten sie den Brief mit der Kassette bis zu einem bestimmten Abend um kurz vor zehn Uhr zurück. Dann steckten sie ihn in das Postfach.
Vier Stunden später sprang Lake, als Jogger verkleidet, unter den wachsamen Blicken von einem Dutzend Agenten aus einem Taxi, das vor Mailbox America hielt, trabte, das Gesicht halb vom langen Schild einer Joggingmütze verborgen, hinein, holte seine Post ab und eilte wieder zum Taxi.
Sechs Stunden später verließ er Georgetown, um an einem Gebetsfrühstück im Hilton teilzunehmen. Man wartete. Um neun Uhr sprach er zu einer Gruppe von Polizeichefs und um elf Uhr zu tausend Schuldirektoren. Er aß mit dem Präsidenten des Repräsentantenhauses zu Mittag. Um drei Uhr erschien er in einem Fernsehstudio, wo eine anstrengende Befragung durch drei Intellektuelle aufgezeichnet wurde. Danach kehrte er in sein Haus zurück, um die Koffer zu packen. Er musste um acht Uhr am Reagan National Airport sein, um nach Dallas zu fliegen.
Sie folgten ihm zum Flughafen, sahen die Boeing 707 abheben und riefen in Langley an. Als die beiden Agenten des Secret Service eintrafen, um die Umgebung von Lakes Haus zu überwachen, hatten sich die Leute der CIA bereits Zugang verschafft.
Die Suche endete nach zehn Minuten in der Küche. Ein transportabler Empfänger hatte das Signal des Senders in der Kassette aufgefangen. Sie fanden sie im Mülleimer, zusammen mit einer halb leeren Milchtüte, zwei zerrissenen Haferflockenpackungen, ein paar schmutzigen Papiertüchern und der aktuellen Ausgabe der Washington Post. Die Putzfrau kam zweimal pro Woche. Lake hatte den Abfall stehen gelassen, damit sie ihn in die Mülltonne warf.
Sie hatten das Versteck nicht finden können, weil es keins gab. Er war so klug, alle Beweismittel sofort zu vernichten.
Teddy war fast erleichtert, als er es erfuhr. Das CIA-Team war noch in Lakes Haus und wartete darauf, dass die Secret-Service-Agenten abzogen. Wie immer Lakes geheimes Doppelleben aussah — er gab sich alle Mühe, keine Spuren zu hinterlassen.
Die Kassette machte Aaron Lake nervös. Rickys Briefe und das Foto seines gut aussehenden Gesichts hatten ihn erregt. Der junge Mann war weit weg — sie würden sich wahrscheinlich nie begegnen. Sie konnten Brieffreunde sein, sie konnten auf die Entfernung miteinander spielen und sich einander vielleicht langsam nähern — das war es jedenfalls, was Lake ursprünglich vorgeschwebt hatte.
Doch durch den Klang seiner Stimme war Ricky ihm mit einem Mal viel näher, und das machte Lake unruhig. Was vor ein paar Monaten als ein eigenartiges kleines Spiel begonnen hatte, barg jetzt ein schreckliches Risiko. Es war viel zu gefährlich. Lake zitterte bei dem Gedanken, ertappt zu werden.
Das erschien ihm allerdings unmöglich. Er war gut hinter der Maske von AI Konyers verborgen.
Ricky hatte keine Ahnung. Auf der Kassette war immer nur vom» lieben AI «die Rede. Das Postfach war sein Schutz.
Aber er musste diese Sache beenden. Jedenfalls bis auf weiteres.
Die Boeing war voll besetzt mit Lakes gut bezahlten Leuten. Es gab kein Flugzeug, das groß genug gewesen wäre, um all seine Mitarbeiter aufzunehmen. Hätte er eine 747 geleast, dann hätten sich binnen kurzem Wahlkampfassistenten, Berater und Umfrageexperten darin gedrängt, ganz zu schweigen von seinen immer zahlreicheren Leibwächtern vom Secret Service.
Je mehr Vorwahlen er gewann, desto schwerer wurde sein Flugzeug. Es wäre vielleicht nicht unklug, in ein paar Bundesstaaten zu verlieren — und sei es nur, um ein wenig Ballast loszuwerden.
In der abgedunkelten Flugzeugkabine nippte Lake an einem Tomatensaft und beschloss, einen letzten Brief an Ricky zu schreiben. AI würde ihm alles Gute wünschen und den Briefwechsel beenden. Was sollte der Junge schon dagegen unternehmen?
Er war in Versuchung, den Brief auf der Stelle zu schreiben, hier, in dem bequemen Sessel mit der ausgefahrenen Fußstütze. Doch jeden Augenblick konnte irgendein Assistent mit einem atemlos vorgetragenen Bericht auftauchen, den der Kandidat unverzüglich hören musste. Er besaß keine Privatsphäre mehr. Er hatte keine Muße, um nachzudenken, einfach herumzuschlendern oder sich Tagträumen hinzugeben. Jeder einzelne angenehme Gedanke wurde sogleich von einem Umfrageergebnis unterbrochen, von einer soeben verbreiteten Nachricht, von einem Ereignis, das eine sofortige Reaktion erforderte.
Wenn er erst im Weißen Haus residierte, würde er seine Ruhe haben. Er war schließlich nicht der erste Einzelgänger, der dort einzog.
EINUNDZWANZIG
Der Fall des gestohlenen Handys faszinierte die Insassen von Trumble schon seit einem Monat. Mr. T-Bone, ein drahtiger Bursche aus einem Ghetto in Miami, der für Drogenvergehen zwanzig Jahre bekommen hatte, war auf nicht ganz geklärte Art und Weise zu einem Handy gekommen. Sie waren in Trumble streng verboten, und über die Methode, wie er sich eins verschafft hatte, kursierten mehr Gerüchte als über T. Karls Sexleben. Die wenigen, die es zu Gesicht bekommen hatten, beschrieben es — nicht vor der Bruderschaft, sondern gegenüber anderen Insassen — als etwa so groß wie eine Stoppuhr. Man hatte Mr. T-Bone in dunklen Ecken gesehen, wo er, der Welt den Rücken zukehrend, gebeugt und das Kinn auf die Brust drückend, in sein Handy murmelte. Offenbar steuerte er noch immer die Aktivitäten seiner Leute in Miami.