«Nimm dir einen Stuhl«, sagte Yarber. Der junge Mann zog einen Stuhl heran und setzte sich vor den Tisch. Selbst Spicer empfand jetzt ein wenig Mitgefühl für ihn.
«Wie heißt du?«fragte Yarber.
«Alle nennen mich Buster.«
«Also gut, Buster. Was hast du getan, um dir achtundvierzig Jahre einzuhandeln?«
Die Geschichte brach wie ein Sturzbach aus ihm heraus. Er balancierte die Schachtel auf den Knien, sah zu Boden und begann zu erzählen. Weder er selbst noch sein Vater waren je mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Sie hatten in Pensacola eine kleine Werft gehabt. Sie hatten das Meer geliebt, sie waren hinausgefahren und hatten gefischt, und sie waren glücklich gewesen, eine Werft zu haben. Eines Tages verkauften sie ein gebrauchtes Fischerboot, ein 50-Fuß-Boot, an einen Amerikaner aus Fort Lauderdale, der 95 000 Dollar in bar bezahlte. Das Geld ging auf das Firmenkonto, oder jedenfalls nahm Buster das an. Ein paar Monate später war der Mann wieder da und kaufte ein zweites Boot, diesmal ein 38-Fuß-Boot für 80000 Dollar. In Florida war es nichts Ungewöhnliches, ein Boot bar zu bezahlen. Sie verkauften auch ein drittes und viertes Boot an diesen Mann. Buster und sein Vater wussten, wo sie gute gebrauchte Fischerboote fanden, die sie überholen und renovieren konnten. Sie arbeiteten gern zusammen. Nach dem fünften Boot kamen Beamte von der Drogenfahndung. Sie stellten Fragen, gaben unbestimmte Drohungen von sich und wollten die Bücher einsehen. Busters Vater weigerte sich zunächst, fragte aber dann einen Rechtsanwalt, der ihnen riet,
die Bücher nicht herauszugeben. Monatelang geschah gar nichts.
Buster und sein Vater wurden an einem Sonntagmorgen um drei Uhr von einem Pulk von Kerlen verhaftet, die kugelsichere Westen trugen und genug Waffen hatten, um ganz Pensacola als Geisel zu nehmen. Sie wurden halb bekleidet aus ihrem Haus am Meer gezerrt. Überall blitzten rote und blaue Lichter. Die Anklageschrift umfasste 160 Seiten und war drei Zentimeter dick. Sie enthielt 81 Anklagepunkte und besagte, sie hätten sich verschworen, um Kokain ins Land zu schmuggeln. Buster hatte eine Kopie davon in seiner Schachtel. Er und sein Vater wurden darin kaum erwähnt. Dennoch waren sie angeklagt, zusammen mit dem Käufer der Boote und fünfundzwanzig anderen Leuten, von denen sie noch nie gehört hatten. Elf davon waren Kolumbianer. Drei waren Anwälte. Alle außer Buster und seinem Vater lebten in Süd-Florida.
Der Staatsanwalt bot ihnen einen Deal an: Sie würden je zwei Jahre bekommen, wenn sie sich schuldig bekannten und gegen die anderen Angeklagten aussagten. Aber wessen sollten sie sich schuldig bekennen? Sie hatten doch nichts Unrechtes getan. Sie kannten nur einen einzigen der anderen sechsundzwanzig Angeklagten. Sie hatten noch nie im Leben Kokain gesehen.
Busters Vater nahm eine neue Hypothek auf das Haus auf, um 20 000 Dollar für einen Anwalt aufzubringen, traf aber eine schlechte Wahl. Beim Prozess waren sie entsetzt, am selben Tisch zu sitzen wie die Kolumbianer und die wirklichen Drogenschmuggler. Alle Angeklagten saßen auf einer Seite des Gerichtssaals, als hätten sie einst ein gut funktionierendes Syndikat gebildet. Auf der anderen Seite, bei den Geschworenen, saßen die Staatsanwälte, aufgeblasene Scheißkerle in dunklen Anzügen, die sich ständig Notizen machten und ihnen finstere Blicke zuwarfen, als wären sie Kinderschänder. Auch die Geschworenen blickten finster.
Der Prozess dauerte sieben Wochen, und Buster und sein Vater wurden praktisch ignoriert. Dreimal wurden ihre Namen erwähnt. Der Hauptvorwurf gegen sie lautete, sie hätten Fischerboote instand gesetzt und mit stärkeren Motoren ausgerüstet, damit Drogen von Mexiko zu verschiedenen Punkten an der Küste von Florida gebracht werden konnten. Ihr Anwalt, der sich beklagte, er habe nicht genug Geld für eine siebenwöchige Verhandlung bekommen, war nicht imstande, diesen unhaltbaren Vorwurf zu entkräften. Andererseits konzentrierten die Staatsanwälte sich auch mehr auf die Kolumbianer.
Allerdings brauchten sie auch gar nicht allzu viel zu beweisen, denn bei der Auswahl der Geschworenen hatten sie ganze Arbeit geleistet. Nach achttägiger Beratung befanden die offensichtlich müden und verärgerten Geschworenen sämtliche Angeklagten in allen Punkten für schuldig. Einen Monat nach der Verurteilung brachte Busters Vater sich um.
Am Ende seiner Geschichte sah der Junge aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen, doch er biss die Zähne zusammen und sagte:»Ich hab nichts verbrochen.«
Er war nicht der erste Insasse von Trumble, der seine Unschuld beteuerte. Beech sah ihn an, hörte zu und dachte an einen jungen Mann in Texas, den er wegen Drogenschmuggels zu vierzig Jahren Gefängnis verurteilt hatte. Er hatte eine schreckliche Kindheit gehabt, so gut wie keine Schulbildung, ein langes Jugendstrafregister — ein Junge, der eigentlich keine Chance gehabt hatte. Und er, Beech, hatte auf der Richterbank gesessen und ihm von dort oben einen langen Vortrag gehalten, und er hatte sich gut dabei gefühlt, eine so drakonische Strafe zu verhängen. Wir müssen diese verdammten Dealer von der Straße holen! Ein Liberaler ist ein Konservativer, den man ins Gefängnis gesteckt hat. Nach drei Jahren Knast dachte Hatlee Beech an viele der Leute, die er verurteilt hatte, mit tiefer Reue. An Leute, die weit schuldiger gewesen waren als Buster. Junge Leute, die bloß eine Chance gebraucht hätten.
Finn Yarber hörte Buster zu und empfand tiefes Mitleid mit ihm. Jeder in Trumble hatte eine traurige Geschichte zu erzählen, und nach ein, zwei Monaten hatte Yarber gelernt, fast nichts davon zu glauben. Doch Buster war glaubwürdig. In den kommenden achtundvierzig Jahren würde er langsam verkümmern, und zwar auf Kosten der Steuerzahler. Drei Mahlzeiten täglich, nachts ein warmes Bett — neuesten Schätzungen zufolge kostete ein Gefangener den Staat pro Jahr 31 000 Dollar. Was für eine Verschwendung! Die Hälfte der Insassen von Trumble hatten hier eigentlich nichts verloren. Sie hatten keine Gewalttaten begangen und hätten zu einer saftigen Geldstrafe und gemeinnütziger Arbeit verurteilt werden sollen.
Joe Roy Spicer hörte Busters herzzerreißende Geschichte und überlegte, wie er aus diesem Jungen Nutzen schlagen konnte. Es gab zwei Möglichkeiten. Erstens war nach Spicers Meinung das Telefon bisher nicht optimal genutzt worden. Die Richter waren alte Männer, die versuchten, Briefe zu schreiben, als wären sie jung. Es wäre beispielsweise zu riskant, Quince Garbe in lowa anzurufen und sich als Ricky, als robuster Achtundzwanzigjähriger, auszugeben. Wenn Buster jedoch mitmachte, würden sie jedes potenzielle Opfer überzeugen können. In Trumble gab es jede Menge junger Burschen, und Spicer hatte mehrere von ihnen in Erwägung gezogen, doch sie waren Kriminelle, und er traute ihnen nicht. Buster dagegen kam frisch von der Straße, war anscheinend unschuldig und hatte sich an sie um Hilfe gewandt. Der Junge war manipulierbar.
Die zweite Möglichkeit war ein Ableger der ersten. Wenn Buster sich beteiligte, würde er bei Spicers Entlassung dessen Platz einnehmen können. Die Sache war zu einträglich, um sang- und klanglos aufgegeben zu werden. Beech und Yarber schrieben hervorragende Briefe, aber sie besaßen keinerlei Geschäftssinn. Vielleicht war es möglich, den Jungen anzulernen, so dass der Spicers Part übernehmen und seinen Anteil nach draußen transferieren konnte.
Nur so ein Gedanke.
«Hast du Geld?«fragte Spicer.
«Nein, Sir. Wir haben alles verloren.«
«Keine Onkel, Tanten, Cousins, Freunde, die das Honorar bezahlen könnten?«
«Nein, Sir. Was für ein Honorar?«
«Normalerweise kriegen wir was dafür, dass wir uns um einen Fall kümmern und bei der Berufung helfen.«
«Ich bin völlig blank, Sir.«
«Ich glaube, wir können was für dich tun«, sagte Beech. Spicer hatte mit Berufungen ohnehin nichts zu tun. Der Mann hatte ja nicht mal einen Highschool-Abschluss.
«Eine Art Pro-bono-Fall, würde ich sagen«, bemerkte Yarber zu Beech.
«Ein Pro was?«fragte Spicer.