Da Tarry nicht sogleich antwortete, fuhr Lake fort:»Sie wollen die Bundesausgaben senken, doch in Ihren vier Jahren als Gouverneur von Indiana sind die staatlichen Ausgaben dort um achtzehn Prozent gestiegen. Sie wollen die Körperschaftssteuer senken, doch in Ihren vier Jahren als Gouverneur von Indiana ist die Körperschaftssteuer dort um drei Prozent gestiegen. Sie wollen die Sozialhilfe einstellen, doch in Ihren vier Jahren als Gouverneur von Indiana hat die Zahl der Sozialhilfeempfänger dort um 40 000 zugenommen. Wie erklären Sie sich das?«
Jeder Verweis auf Indiana war ein harter Schlag, und Tarry hing in den Seilen.»Ich kann Ihre Zahlen nicht bestätigen«, brachte er heraus.»Wir haben in Indiana Stellen geschaffen.«
«Tatsächlich?«fragte Lake boshaft, nahm ein Papier von seinem Podium und hielt es in die Höhe, als wäre es eine Anklageschrift gegen Gouverneur Tarry.»Das mag schon sein, aber in Ihrer vierjährigen Amtszeit haben sich fast sechzigtausend Menschen arbeitslos gemeldet«, verkündete er, ohne einen Blick auf das Papier zu werfen.
Es stimmte, dass Tarrys vier Jahre nicht gerade erfolgreich gewesen waren, doch in seiner Amtszeit war die Gesamtwirtschaft den Bach runtergegangen. Das hatte er bereits des Öfteren erklärt, und er hätte es gern noch einmal getan, aber — verdammt! — ihm blieben nur noch ein paar Minuten landesweite Sendezeit, und er beschloss, keine Zeit mit Haarspaltereien über Vergangenes zu verschwenden.»Bei dieser Wahl geht es aber nicht um Indiana«, sagte er und rang sich ein Lächeln ab.»Bei dieser Wahl geht es um alle 50 Bundesstaaten. Es geht um die Menschen in unserem Land, die mehr Steuern zahlen sollen, um Ihre sündhaft teuren Rüstungsprojekte zu finanzieren, Mr. Lake. Sie können doch nicht im Ernst wollen, dass das Budget des Pentagons verdoppelt wird.«
Lake sah seinen Gegner fest an.»Oh doch, das will ich. Und wenn Ihnen die Verteidigung unseres Landes am Herzen läge, dann würden Sie es auch wollen. «Und dann rasselte er Statistiken herunter, eine nach der anderen, und jede baute auf der vorhergehenden auf. Insgesamt bewiesen sie überzeugend die mangelnde Einsatzbereitschaft der Streitkräfte, und als Lake schließlich fertig war, hatte er dargelegt, dass» unsere Jungs im Augenblick nicht mal zu einer Invasion Bermudas imstande wären«.
Doch Tarry hatte eine Studie, die das Gegenteil bewies. Es handelte sich um ein dickes, auf Hochglanzpapier gedrucktes Manuskript, das von ehemaligen Admiralen verfasst worden war. Er schwenkte es vor den Kameras und sagte, eine Aufrüstung sei vollkommen unnötig. Abgesehen von einigen regional begrenzten Auseinandersetzungen und Bürgerkriegen, bei denen keine nationalen Interessen der USA gefährdet seien, herrsche weltweit Frieden. Amerika sei die einzige verbliebene Supermacht. Der Kalte Krieg sei vorüber, und China sei Jahrzehnte davon entfernt, auch nur annähernd gleich stark zu sein. Warum also solle man den Steuerzahler mit zweistelligen Milliardenbeträgen für neue Rüstungsprojekte belasten?
Sie diskutierten eine Weile darüber, wie dieses Geld aufzubringen sei, und Tarry machte ein paar Punkte wett. Doch sie bewegten sich auf Lakes Territorium, und bald war deutlich, dass dieser auch hier weit kompetenter war als der Gouverneur.
Lake sparte sich das Beste für den Schluss auf. In seiner zehnminütigen Zusammenfassung wandte er sich wieder dem Thema Indiana zu und zählte die Misserfolge auf, die Tarry in seiner einzigen Amtszeit zu verantworten gehabt hatte. Seine Argumentation war einfach und sehr wirkungsvolclass="underline" Wie sollte Tarry das Land regieren, wenn er es nicht einmal geschafft hatte, einen Bundesstaat zu regieren?
«Ich mache den Menschen in Indiana wirklich keinen Vorwurf«, sagte er,»denn sie sind klug genug gewesen, Mr. Tarry nach nur einer Amtszeit wieder nach Hause zu schicken. Sie haben erkannt, dass er seine Arbeit nicht gut gemacht hat. Darum hat er, als er sich zur Wiederwahl stellte, auch nur 38 Prozent der Stimmen bekommen. 38 Prozent! Wir sollten den Einwohnern von Indiana vertrauen. Sie kennen diesen Mann. Sie haben gesehen, was er unter Regieren versteht. Sie haben einen Fehler begangen und diesen Fehler wieder gutgemacht. Es wäre doch ein Jammer, wenn der Rest des Landes denselben Fehler begehen würde.«
Den sofort nach der Sendung vorgenommenen Umfragen zufolge lag Lake weit in Führung. Der IVR rief unmittelbar nach der Debatte 1000 Wähler an. Beinahe 70 Prozent fanden, Lake sei der bessere Kandidat.
An Bord von Lakes Maschine, die am späten Abend von Pittsburgh nach Wichita gestartet war, knallten die Korken, und eine kleine Party begann. Nach und nach wurden die Umfrageergebnisse — eins besser als das andere — durchgegeben, und es herrschte Siegesstimmung.
Alkohol war an Bord der Boeing zwar nicht verboten, aber auch nicht erwünscht. Wenn einer von Lakes Mitarbeitern einen Drink nehmen wollte, musste er es schnell und diskret tun. Doch gewisse Augenblicke musste man einfach feiern. Auch Lake trank zwei Gläser Champagner. Nur seine engsten Vertrauten waren anwesend. Er dankte und gratulierte ihnen, und während die nächste Flasche geöffnet wurde, sahen sie sich noch einmal die Höhepunkte der Debatte an. Das Video wurde jedes Mal angehalten, wenn Gouverneur Tarry besonders verwirrt aussah, und jedes Mal wurde das Gelächter lauter.
Die kleine Feier dauerte jedoch nicht lange. Nach und nach wurden alle von ihrer Müdigkeit eingeholt. Diese Leute hatten wochenlang nur fünf Stunden pro Nacht geschlafen, die meisten in der Nacht vor der Debatte sogar noch weniger. Auch Lake war erschöpft. Er trank sein drittes Glas Champagner aus — es war das erste Mal seit vielen Jahren, dass er so viel getrunken hatte —, setzte sich in den Ledersessel mit der verstellbaren Lehne und deckte sich mit einer Steppdecke zu. Auch die anderen hatten sich auf den Liegesitzen in der abgedunkelten Kabine ausgestreckt.
Im Flugzeug konnte er meist nicht schlafen. Auch jetzt tat er es nicht. Es gab zu viele Dinge zu bedenken und zu erwägen, und er genoss seinen Sieg in der Fernsehdebatte. Während er die Decke zurechtstrich, wiederholte er in Gedanken noch einmal seine besten Sätze. Er war brillant gewesen, auch wenn er das niemandem gegenüber zugegeben hätte.
Die Nominierung war ihm sicher. Auf dem Parteitag würde man ihn wählen, und dann würden er und der Vizepräsident sich nach bester amerikanischer Tradition ein viermonatiges Duell liefern.
Er schaltete das kleine Leselicht ein, das über seinem Sitz montiert war. Weiter vorn, in der Nähe des Cockpits, leuchtete ein zweites Leselicht. Noch ein Schlafloser. Die anderen schnarchten unter ihren Decken und schliefen den Schlaf junger Leute, die mit hochoktanigem Treibstoff angetrieben wurden. Lake öffnete seinen Aktenkoffer und holte eine kleine Ledermappe hervor, in der sich seine privaten Briefkarten befanden. Sie waren zehn mal fünfzehn Zentimeter groß, aus handgeschöpftem, leicht getöntem Bütten und links oben in einer halbfetten Antiquaschrift mit dem Namen» Aaron Lake «bedruckt. Mit einem dicken, altmodischen Füller schrieb Lake einige Zeilen an seinen Zimmergenossen aus Collegezeiten, der jetzt an einer kleinen Universität in Texas Professor für Latein war. Er schrieb eine Dankeskarte an den Moderator der Fernsehdebatte und eine an seinen Wahlkampfkoordinator in Oregon. Lake liebte die Romane von Tom Clancy. Er hatte kürzlich das neueste und bislang dickste Buch von ihm gelesen und schrieb einen kurzen Glückwunsch an den Autor.
Manchmal reichte eine Karte nicht aus, und darum hatte er noch andere von derselben Größe und Farbe, jedoch ohne Namensaufdruck. Auf eine dieser Karten schrieb er, nachdem er sich mit einem kurzen Blick vergewissert hatte, dass seine Mitarbeiter fest schliefen:
Lieber Ricky!
Ich glaube, es ist am besten, wenn wir unseren Briefwechsel beenden. Ich wünsche dir alles Gute. Herzliche Grüße, AI