Die Adresse in Aladdin North hatte er im Kopf. Er schrieb sie auf einen ebenfalls unbedruckten Umschlag. Dann nahm er einige mit seinem Namen versehene Karten und formulierte Dankschreiben an Leute, die größere Summen gespendet hatten. Nach zwanzig Karten übermannte ihn die Müdigkeit. Die Karten lagen vor ihm auf dem Tischchen, und das Licht brannte noch, als er sich zurücklehnte. Innerhalb weniger Minuten war er eingeschlafen.
Nach nicht einmal einer Stunde wurde er von panischen Schreien geweckt. Die Kabinenbeleuchtung war eingeschaltet, Menschen eilten umher, und überall war Rauch. Aus dem Cockpit drang ein lautes Alarmsignal, und als Lake den Schlaf abgeschüttelt hatte, wurde ihm bewusst, dass die Boeing sich in einem steilen Sinkflug befand. Die Panik vergrößerte sich noch, als die Klappen in der Deckenverkleidung sich öffneten und die Sauerstoffmasken herausfielen. Nachdem man jahrelang gelangweilt zugesehen hatte, wie Flugbegleiter vor dem Start die Handhabung dieser Masken demonstrierten, sollten die verdammten Dinger nun tatsächlich benutzt werden. Lake legte seine Maske an und atmete tief ein.
Der Pilot verkündete, man werde eine Notlandung in St. Louis machen. Das Licht flackerte, und jemand schrie. Lake wollte von einem zum anderen gehen und die Leute beruhigen, doch seine Sauerstoffmaske hinderte ihn daran, sich von seinem Platz zu entfernen. Hinter ihm, in einem abgetrennten Teil der Maschine, befanden sich zwei Dutzend Reporter und etwa ebenso viele Secret-Service-Männer.
Vielleicht hat der Mechanismus, der die Sauerstoffmasken freigibt, dort versagt, dachte er und fühlte sich schuldig.
Der Rauch wurde dicker, und die Beleuchtung erlosch. Nach der ersten Panik gelang es Lake — wenn auch nur für einen kurzen Augenblick —, einen klaren Gedanken zu fassen. Rasch sammelte er die Briefkarten und Umschläge ein. Die Karte an Ricky schob er in den Umschlag mit der Adresse in Aladdin North. Er verschloss ihn und tat ihn in die Ledermappe, die er in den Aktenkoffer legte. Wieder flackerte das Licht, dann erlosch es ganz.
Der Rauch brannte in den Augen und wärmte die Gesichter. Das Flugzeug verlor schnell an Höhe.
Aus dem Cockpit ertönten Warnsignale und Sirenen.
Das kann nicht sein, dachte Lake und umklammerte die Armlehnen. Ich bin doch dabei, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Er dachte an Rocky Marciano, Buddy Holly, Otis Redding, Thurman Munson, den texanischen Senator Tower und an seinen Freund Mickey Leland aus Houston. Und an John F. Kennedy jr. und Ron Brown.
Plötzlich wurde die Luft kalt, und der Rauch verschwand schnell. Sie waren jetzt unterhalb von 3000 Metern Höhe, und der Pilot hatte es irgendwie geschafft, die Kabine zu lüften. Das Flugzeug sank jetzt nicht mehr, und durch die Fenster konnten sie unter sich Lichter sehen.
«Bitte behalten Sie die Masken auf«, sagte die Stimme des Piloten in der Dunkelheit.»Wir werden in wenigen Minuten landen. Wir glauben, dass es keine Probleme geben wird.«
Keine Probleme? Sollte das ein Witz sein? dachte Lake. Er musste auf die Toilette.
Zögernd machte sich Erleichterung breit. Kurz vor der Landung sah Lake die Blinklichter von hundert Einsatzfahrzeugen. Beim Aufsetzen hüpfte die Maschine, wie bei fast jeder Landung, ein wenig, und als sie am Ende der Bahn zum Stehen kam, flogen die Türen der Notausgänge auf.
Es entstand ein Gedränge, und innerhalb weniger Minuten wurden die Passagiere von Rettungssanitätern in Empfang genommen und zu den wartenden Krankenwagen geführt. Das Feuer im Frachtraum hatte sich während der Landung noch weiter ausgebreitet. Als Lake sich im Laufschritt von der Maschine entfernte, rannten Feuerwehrleute mit Gerät darauf zu. Unter den Flügeln quoll Rauch hervor.
Ein paar Minuten länger, dachte Lake, und wir wären allesamt tot gewesen.»Das war knapp, Sir«, sagte ein Sanitäter, der neben ihm her rannte. Lake umklammerte den Aktenkoffer mit den Briefkarten. Zum ersten Mal überkam ihn blankes Entsetzen.
Die Tatsache, dass er einer Katastrophe nur um Haaresbreite entgangen war, sowie die unvermeidliche Berichterstattung der Medien trug vermutlich nur wenig dazu bei, Lakes Popularität zu steigern. Allerdings schadete es ihm auch nicht. In den Morgennachrichten war er landesweit zu sehen: Er sprach über seinen entscheidenden Sieg in der Debatte mit Gouverneur Tarry und schilderte Einzelheiten dessen, was sein letzter Flug hätte sein können.
«Ich glaube, ich nehme in nächster Zeit lieber den Bus«, sagte er lachend. Er setzte allen Humor ein, der ihm zur Verfügung stand, und versuchte, den Zwischenfall mannhaft abzutun. Seine Mitarbeiter erzählten eine andere Geschichte: von Sauerstoffmasken und vom Warten in der Dunkelheit, während der Rauch dichter und heißer wurde. Und die Journalisten, die mitgeflogen waren, gaben natürlich nur zu gern detaillierte Beschreibungen der Angst an Bord zum Besten.
Teddy Maynard verfolgte alles von seinem Bunker aus. Drei seiner Männer waren dabei gewesen, und einer von ihnen hatte ihn aus dem Krankenhaus in St. Louis angerufen.
Es war ein eigenartiges Ereignis gewesen. Einerseits glaubte Teddy noch immer daran, dass es von entscheidender Bedeutung war, dass Lake Präsident wurde: Die Sicherheit des Landes hing davon ab.
Andererseits wäre ein Absturz keine Katastrophe gewesen. Lake und sein Doppelleben wären verschwunden, und ein gewaltiges Problem wäre erledigt gewesen. Gouverneur Tarry hatte am eigenen Leib erfahren, welche überragende Bedeutung unbegrenzte finanzielle Mittel spielten. Teddy hätte noch rechtzeitig eine Abmachung mit ihm treffen können, um den Wahlsieg im November zu sichern.
Aber Lake war unversehrt geblieben und dominierte die politische Landschaft noch mehr als zuvor. Sein sonnengebräuntes Gesicht war auf den Titelseiten aller Zeitungen, und wohin er auch ging, war eine Fernsehkamera nicht weit. Sein Wahlkampf war erfolgreicher, als Teddy es sich hatte träumen lassen.
Warum also diese Angst im Bunker? Warum feierte Teddy nicht?
Weil das Rätsel um die Richter noch immer nicht gelöst war. Und weil er diese Leute nicht einfach umbringen konnte.
FÜNFUNDZWANZIG
Das Team in der Abteilung Dokumente benutzte denselben Laptop wie für den letzten Brief an Ricky. Der Brief war von Deville persönlich entworfen und von Mr. Maynard gutgeheißen worden.
Lieber Ricky!
Ich habe mich gefreut, als ich las, dass du demnächst in ein Offenes Haus in Baltimore entlassen wirst. Gib mir ein paar Tage Zeit — ich werde mich um einen Vollzeitjob für dich kümmern. Der Arbeitgeber ist eine Kirchengemeinde, und du wirst nicht sehr viel verdienen, aber für einen Neuanfang ist es genau das Richtige.
Ich schlage vor, dass wir uns ein bisschen mehr Zeit lassen. Vielleicht treffen wir uns erst einmal zum Mittagessen und sehen dann weiter. Ich bin nicht der Typ, der die Dinge überstürzt.
Ich hoffe, es geht dir gut. Ich lasse dich nächste Woche die Einzelheiten über den Job wissen. Halt die Ohren steif.
Liebe Grüße, AI
Nur das» AI «war handgeschrieben. Der Umschlag wurde mit einem Washingtoner Poststempel versehen und dann per Kurier an Klockner in Neptune Beach weitergeleitet. Trevor war in Fort Lauderdale, wo er erstaunlicherweise normale anwaltliche Dinge zu erledigen hatte, und so lag der Brief zwei Tage lang im Postfach von Aladdin North. Als Trevor erschöpft nach Neptune Beach zurückkehrte, blieb er nur lange genug in seiner Kanzlei, um einen heftigen Streit mit Jan vom Zaun zu brechen; dann stürmte er hinaus, setzte sich in seinen Wagen und fuhr zum Postamt. Zu seiner Freude war das Postfach voll. Er sortierte die Reklamesendungen aus, fuhr zum einen Kilometer entfernten Postamt von Atlantic Beach und sah im Postfach von Laurel Ridge nach, der teuren Drogenklinik, in der Percy saß.
Nachdem er die Post abgeholt hatte, fuhr Trevor, sehr zu Klockners Enttäuschung, direkt nach
Trumble. Unterwegs telefonierte er nur einmal, und zwar mit seinem Buchmacher. Er hatte innerhalb von drei Tagen 2500 Dollar beim Eishockey verloren, einem Sport, für den Spicer sich nicht interessierte. Trevor hatte seine Favoriten selbst ausgesucht — mit vorhersehbarem Ergebnis.